Die Uraufführung von Jacques Offenbachs „Roi Carotte“ (1872) ist mit heute unfassbaren Zahlen belegt: 1150 Kostüme, 193 Bilder in vier Akten, innerhalb von sechs Monaten 193 Aufführungen, sechs Stunden Uraufführung und noch vieles mehr. Und doch verschwand das Werk in der Versenkung, bis es rekonstruiert werden und in einer dreistündigen Fassung 2015 in Lyon aufgeführt werden konnte. Und nun gab es in Hannover von dieser Fassung eine viel bejubelte, glänzende deutsche Erstaufführung, die der Musicalfachmann Matthias Davids als Regisseur verantwortete.
Er hatte in dem fantasiereichen Bühnenbildner Mathias Fischer-Dieskau und dem forschen Dirigenten Valtteri Rauhalammi kongeniale Kollegen für die kurzweilige Aufführung der „opéra-bouffe-féerie“, wie der Untertitel des übermütigen Werkes mit dem Text von Victorien Sardou lautet. Das heißt, er verbindet die Offenbachsche „Opéra Bouffe“ mit der beliebten Gattung „Opéra féerie“. Offenbachs Werke setzten dem ganzen hohlen Treiben des dritten Kaiserreichs in der der Weltstadt Paris einen einzigartigen und von allen Schichten akzeptierten und bejubelten Spiegel vor.
König Karotte übernimmt mit seinen Gemüsekollegen (herrliche Kostüme für Lauch, Kartoffel, Rote Bete von Susanne Hubrich) die Herrschaft in Krokodyne, weil der verschwenderische und vergnügungssüchtige Regent Prinz Fridolin XXIV charakterlich auf der ganzen Linie versagt. Aber er, der Vertreter des Ancièn Régime, wird von seinen Freunden in die Lehre geschickt, um Toleranz, vielleicht auch Demokratie zu lernen. Zwischenzeitlich hat sich der Karottenkönig, der mit Hilfe der Hexe die Macht übernommen hat, als unfähig und korrupt erwiesen, was das Volk zur entschiedenen Revolution bringt: um Rente, Mietpreise und bezahlbare Lebensmittel geht es da. Fridolin kommt zurück heiratet nun seine große Liebe Rosée-du-Soir. Davids verzichtet wohltuend auf moralisierende Aktualisierungen, wie sie im Programmheft sehr wohl angedeutet werden. Dass man an Nordkorea, Polen oder auch Lateinamerika, aber auch an Herrn Trump denkt, das stellt sich von selbst ein.
Lustvoll, witzig und riesengroß werden die Tableaus erstellt, wenn Fridolin auf Zeitreise geht: nach Pompeii, um den Ring des Salomo zu finden, ins Reich der Ameisen, auf eine Affeninsel,...alles ist unwahrscheinlich und wird von Davids mit einer perfekten Mischung aus Parodie, Wirklichkeit (besonders die Liebesgeschichte mit der sich für Fridolin aufopfernden Rosée), Skurrilität, Absurdität und immer wieder unerhörter Lust an bühnentechnischen Effekten wie dem Abreißen von Armen und Beinen erzählt. Hier war einer der Höhepunkte, wie die Truppe um Fridolin die Pompejaner von der gerade erst erfundenen Eisenbahn überzeugen will.
Und das Stück bringt, wie alle Bühnenwerke Offenbachs, den Karl Kraus den „größten Satiriker aller Zeiten“ genannt hat, eine unfassbare Fülle von guter Musik. Es gibt Ensemble-Szenen, die schon nach „Hoffmanns Erzählungen“ klingen – so das Quintett „Der Anblick lässt und erschauern“ angesichts des rauchenden Vesuvs – es gibt Lieder, Tänze, großartige Chöre (toll und kraftvoll gesungen) und ungemein einfallsreiche Instrumentierungen wie das Gewusel der Ameisen.
Der gute Offenbachinterpret muss viel können: gut, also eigentlich wie ein Schauspieler, sprechen, parlandoartig singen und „richtig“ singen: Von allen wurde das gut gemacht. Eric Laporte als Fridolin, Athanasia Zöhrer als Rosée-du-Soir, Mareike Morr als Robin, Stella Morina als Kunigunde und Sung-Keun Park als Karotte seien hier stellvertretend für alle großen Leistungen dieses Abends genannt. Es wird nicht ausbleiben, dass andere Theater sich die Wiederentdeckung dieses grandiosen Stückes nicht werden entgehen lassen. Die nächsten Aufführungen sind am 11., 14., und 23. November.