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Abb. Notenheft: Kraftwerk; Kling Klang Musik, Sony/ATV Music Publishing, The Music Sales Group

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Das Gottesgeschenk Synthesizer

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Die Experimente des Krautrock · Von Hans-Jürgen Schaal
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Es war eine Kulturrevolution im Underground. Um 1970 entstanden in Deutschland eigenständige Formen des Umgangs mit Rockmusik-Einflüssen. In seiner Blütezeit brachte der deutsche Krautrock rund 200 LPs jährlich hervor.

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Der Begriff „Krautrock“ war nicht gerade schmeichelhaft gemeint. „Krauts“ – so hatten die Amerikaner die feindlichen Deutschen im Zweiten Weltkrieg genannt. Krautrock hieß also: die seltsame Rockmusik der seltsamen Deutschen. Hierzulande war diese Bedeutung des Wortes „Kraut“ aber nicht jedem bekannt. Viele hielten „Krautrock“ einfach für eine provinziell-vertrauliche Bezeichnung, die an „Kraut und Rüben“ und Urwüchsiges, Handgemachtes gemahnte, vielleicht auch an das Cannabis-Kraut, das damals eine große Rolle spielte. So richtig ernst genommen wurden die Krautrock-Bands in Deutschland ohnehin nicht – eben weil sie nicht so klangen wie die britischen und amerikanischen Rockgruppen. Im Ausland jedoch, speziell in England, wusste man das Eigenständige der deutschen Bands zu schätzen. Der Elektronik-Pionier Brian Eno meinte schon 1973: „Das ist die wichtigste Rockmusik, die auf der Welt zurzeit gemacht wird.“ Er hörte darin (nicht zu Unrecht) Echos der Musik von Stockhausen, Cage und Riley. Aus dem Schimpfwort „Kraut­rock“ wurde in England ein Markenzeichen. „Weil die Musik so grandios ist“, wie der Ur-Punker Iggy Pop meinte.

Der Krautrock gab im Grunde eine verspätete Antwort auf den kulturellen Kahlschlag der NS-Zeit. Denn die Kraut­rock-Protagonisten waren Kriegs- und Nachkriegskinder, vor allem der Jahrgänge 1940 bis 1950, die sich auf die eine oder andere Weise mit der deutschen „Kollektivschuld“ herumschlugen. Sie erlebten, wie der neue Rocksound aus Amerika und England in Deutschlands kulturelles Vakuum einschlug. „Alles Interessante musste importiert werden, weil nach dem Krieg eben nichts Interessantes übrig war“, sagt Irmin Schmidt (Can). „Wir waren gebeutelt von der ganzen englischen und amerikanischen Musik“, sagt Klaus Schulze. Viele hatten das Gefühl, dass Swing, Blues und Rock’n’Roll zwar großartig klangen, aber eben nicht die eigene Tradition waren – und dass man sie nicht einfach adaptieren sollte. Stattdessen: etwas Neues beginnen, bei Null anfangen, eine andere Tradition begründen, eine andere Rockmusik erfinden, nicht die Vorbilder nachahmen, nicht Songformen und Blue Notes übernehmen. „Du musst das alles weglassen, alles vergessen, um etwas Eigenes zu entwickeln“, so Michael Rother.

Den entscheidenden Impuls gab die Aufbruchstimmung von 1968. Da war zuallererst die Studentenbewegung, von deren politischen Diskussionen und billigem Musikgeschmack man sich allerdings bald distanziert hat. Da gab es die Drogen, die als Inspiration und beim Musikhören wichtig wurden, beim Kreativsein aber eher störten. Da war die Bewegung der Hippies, die langen Haare, das WG- und Kommunenleben, Meditation und Spiritualität. Da waren auch die gleichzeitigen Aufbrüche in Kunst, Film, Theater – viele „Krauter“ kamen aus der Kunstszene (Froese, Karrer, Schnitzler , Serfas usw.), viele Auftritte fanden in Galerien und Museen statt. Und da war nicht zuletzt die musiktechnische Revolution mit Elektronik, Farfisa-Orgel, Ringmodulator, Synthesizer, Effektgeräten und Studioexperimenten an Tonbändern und Mikrofonen. In der frühen elektronischen Musik konnte man wirklich bei Null beginnen, ohne Traditionen, Strukturen, Lehrbücher. Harald Großkopf (Ash Ra Tempel) nannte den Synthesizer ein „Gottesgeschenk“.

Album als Gesamtkunstwerk

Nicht alles, was aus Amerika und England kam, wurde abgelehnt. Die damals neueste psychedelische Beatmusik bedeutete vielmehr eine wichtige Inspiration: das Album als Gesamtkunstwerk, Songs von LP-Seiten-Umfang, lange Improvisationsstrecken, halbstündige Konzertstücke, Trance-Musik. Immer wieder verwiesen die Krautrocker auf Bands wie Pink Floyd­, Velvet Underground, Grateful Dead, Jefferson Airplane oder Soft Machine – denn auch diese Bands vermieden häufig die konventionellen Songstrukturen. Musik aus ferneren Kulturkreisen (indisch, arabisch, indonesisch) wurde durch ihre anderen Formen und Tonalitäten und ausufernden Stücklängen ebenfalls zu einer wichtigen Anregung. Geradezu ein Modell für den Krautrock war der deutsche Free Jazz: Auch dort machte man sein eigenes Ding und improvisierte frei drauf los. Einige „Krauter“ (Bartos, Burchard, Liebezeit, Neumeier, Serfas u.a.) hatten eine aktive Jazz-Vergangenheit. „Die ganzen Kraut­rock-Apostel waren eigentlich Jazzfans, die sich weiterentwickelt haben“, meint Dieter Serfas (Embryo). Und nicht zuletzt kamen entscheidende Impulse aus der Neuen Musik. Viele der Musiker interessierten sich für Stockhausen („Gesang der Jünglinge“), Xenakis, Varèse, Henry, Koenig, Boulez oder Schaeffer, für die neue Minimal Music von Reich („Drumming“), Riley und LaMonte Young und die Studios für elektronische E-Musik.

Von den Bands, die wir heute dem Krautrock zurechnen, hat sich wohl keine in der Blütezeit dieses Stils mit der Bezeichnung „Krautrock“ identifiziert. Doch den spontanen, intuitiven, das Anglo-Amerikanische vermeidenden Ansatz hatten sie alle gemeinsam. Man wollte frei improvisieren, etwas entwickeln, scheuklappenlos, und sehen, wohin das führt. Manche hatten zum ersten Mal ein Musikinstrument in der Hand, manche „bauten“ sich auch ihre Instrumente aus Alltagsgegenständen. Die Musiker und Musikerinnen kamen allerdings aus ganz verschiedenen Gesellschafts- und Bildungsschichten. Die einen „lernten“ ihr Instrument quasi auf der Bühne, die anderen wollten ihr Instrument eher „verlernen“ und eine neue Naivität entwickeln. Der Komponist Thomas Kessler, Inspirator der Berliner Krautszene, sagt: „Viele mussten ihren Nichtakademismus überwinden, und ich musste meinen Akademismus überwinden.“ In der „Musikkommune“ von Amon Düül zum Beispiel war Krautrock ein anarchisches Musik-Happening – kein Wunder, dass sich die musikalisch Fokussierten irgendwann abspalteten (Amon Düül II). Irmin Schmidt dagegen war Stockhausen-Schüler, Brahms-Pianist, Mahler- und Cage-Dirigent und Gründer eines Neue-Musik-Ensembles – dann aber ging er hin und schuf die Band Can.

Spirituell hören

Unerhörtes ausprobieren – diese Absicht einte die Szene. Selbst die musikalisch Versierten erforschten das Unbekannte, erzeugten unerwartete Töne, experimentierten mit Synthesizern, wollten wieder Dilettanten sein. Musikinstrumente sollten nicht „beherrscht“, sondern spielerisch erkundet werden. Umweltgeräusche und Zufallssounds wurden integriert oder kosmische Synthesizer-Wogen erzeugt. Die Musik war abenteuerlich und in den Anfängen der Bewegung manchmal primitiv. Meist begann das Musizieren mit einer zufälligen Tonfolge oder einem Sound – und dann ließ man die Klänge organisch wachsen. Manchmal entstanden aus dieser Art von Improvisation Stücke und Strukturen, aber vieles blieb unwiederholbar. Noten, Melodien und Texte notierten die Wenigsten. Musikalische Vorkenntnisse und Einflüsse prägten die Musik eher auf intuitivem Weg. Bei Auftritten konnten die improvisierten Stücke zwei oder drei Stunden lang dauern. Die Musiker liebten „trancige“ Längen oder ekstatische Ausbrüche, und das Publikum vertiefte das „spirituelle“ Zuhören gerne durch Drogenkonsum. Für die Krautrocker war diese Art zu musizieren vielfach ein Befreiungserlebnis, ein emotionales Sich-Abreagieren. 

Der Krautrock als Bewegung hatte verschiedene lokale Szenen. Überregional wusste man immerhin voneinander und traf sich zufällig auf Festivals. Der wichtigste Fokus lag in Westberlin, wo der Zodiak Club (bis 1969) und das Electronic Beat Studio zu frühen Brutstätten wurden. Als Doyen dieser „Berliner Schule“ fungierte Thomas Kessler, Träger des Schweizer Musikpreises 2018. Er war Schüler von Boris Blacher, schätzte Stockhausen, Schaef­fer, Globokar und die Musique concrète, arbeitete mit Luc Ferrari, Hamel, Reich, Riley, Cardew, Earle Brown oder Cage, brachte die ersten Minimal-Music-Schallplatten nach Berlin und einen der ersten Synthesizer (EMS). In Kesslers Studio traf man sich zum Improvisieren und hat dann die Improvisationen abgehört und diskutiert. Zur Berliner Szene gehörten Agitation Free, Tangerine Dream, Ash Ra Tempel, Conny Schnitzler, Klaus Schulze, Curly Curve oder Human Being (später Kluster bzw. Cluster). In Hamburg entstanden Achim Reichels A.R. & Machines und die Band Faust. München war das Sammelbecken für Formationen wie Amon Düül II, Embryo und Popol Vuh. In Düsseldorf gab es Kraftwerk und Michael Rothers Neu!.     

Trotz des unformalistischen Ansatzes und der großen Bandbreite der Ergebnisse wurde der Krautrock speziell im Ausland erstaunlicherweise als einheitliche, eigenständige und signifikante Stilistik wahrgenommen. „Es ging nicht um Pop, es ging um Kunst“, sagt Brian Eno. In England empfand man sogar die rätselhaften deutschen Namen und Texte auf den Platten nicht als verstörend, sondern als exotisch und interessant. „Deutsches war nicht im Entferntesten uncool. Im Gegenteil, es war fremd und verlockend“, sagt der Schlagzeuger Stephen Morris (Joy Division). Die damals junge englische Plattenfirma Virgin bemühte sich besonders um den Krautrock und machte die „kosmische“ Synthesizer-Band Tangerine Dream weltweit erfolgreich – 1974/75 erreichten ihre Platten in England sogar die Top 20. Auch in Frankreich war man damals für Krautrock-Klänge aufgeschlossen. Die Erfindung des Avant-Rock-Stils „Zeuhl“ 1973 mit seinen kruden Gesängen in einer hart klingenden Fantasie­sprache reflektierte vermutlich den deutschen Einfluss. 

Ihre erfolgreichste Verbreitung fanden die experimentellen Klänge des Krautrock als Film-Soundtracks. Die Musik von Can begleitete etliche deutsche Kriminalfilme, Popol Vuh die Kinofilme von Werner Herzog, Klaus Schulze Produktionen von Sofia Coppola oder David Lynch, Tangerine Dream die Filme von Michael Mann und zahlreiche andere amerikanische und deutsche Streifen. Unzählige internationale Musiker – von Brian Eno und David Bowie bis hin zu Depeche Mode, Alphaville, Sonic Youth, Tortoise, Primal Scream, Radiohead oder Daniel Lanois – berufen sich auf Inspirationen aus dem Krautrock. Der Musiker und Labelgründer Daniel Miller sagt über die Kölner Band Can: „Ich höre ihren Einfluss überall und quer durch alle Genres.“ 

Im Ausland verbinden manche den Krautrock-Sound mit dem urbanen Industrie- und Autoland Deutschland. Andere hören darin die Vergrübeltheit und Humorlosigkeit der deutschen Nachkriegsgeneration. Der englische Rockmusiker Steven Wilson (Jg. 1967) meint: „Für mich war Krautrock immer eine besondere und ernsthafte Kunstform – mit einer präzisen Ideologie und Philosophie.“ 

  • Alle Zitate aus: Christoph Dallach: Future Sounds, Suhrkamp 2021

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