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Praetorius, gesungen und vertanzt. Foto: Rainer Sliepen
Praetorius, gesungen und vertanzt. Foto: Rainer Sliepen
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Das Image des One-Hit-Wonders ist ein falsches

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Eindrücke vom Michael-Praetorius-Jahr 2021 in Wolfenbüttel
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„Ein Mann, der allen alles bot“, so urteilte Professor Andreas Waczkat von der Universität Göttingen über Michael Praetorius (1571 bis 1621). Der Wiederkehr seines 400. Todesjahres wurde an der Stätte seines Wirkens in der alten Residenzstadt Wolfenbüttel mit einem Praetorius-Jahr gedacht. Und dennoch, in der Pop-Musik würde man von einem One-Hit-Wonder sprechen. Denn einer breiten Öffentlichkeit ist der Barockkomponist nur mit einem Werk bekannt: Dem Weihnachtslied „Es ist ein Ros´ entsprungen.“ Dabei zählt der Hofkapellmeister zur Spitzenliga der genialen Komponisten an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert.

Den Jubiläumsanlass nutzte die Wolfenbütteler Stadtgesellschaft zur Durchführung einer qualitativ herausragenden Konzertfolge. Immerhin war Wolfenbüttel vor 400 Jahren ein Ort der musikalischen Weltgeschichte, nachprüfbar an den in der Herzog August Bibliothek (HAB) archivierten Werken. In Wolfenbüttel hat man das geschafft, wovon andere träumen. Die Zusammenarbeit der Kulturinstitutionen in der Stadt hat perfekt funktioniert. Dazu zählen die renommierte HAB, die Bundesakademie für kulturelle Bildung, die Landesmusikakademie Niedersachsen, das Michael-Prae­torius-Collegium, der Kulturstadtverein und private Kulturvereinigungen. Finanziell wurden die Projekte vom Bund, dem Land Niedersachsen und der Stadt Wolfenbüttel gefördert.

Im Mittelpunkt der Eröffnung am 5. Juni stand Praetorius als Wegbereiter eines neuen Musikverständnisses, das sich aus der italienischen Polyphonie und der Monodie des Claudio Monteverdi speiste. Zweiter zentraler Baustein der Festivalidee war die Verschmelzung von Musik und Theologie als wirksamste Form der Verkündigung der christlichen Botschaft.  Umrahmt wurde die per Livestream übertragene Veranstaltung von der „Hamburger Ratsmusik“, die die Lebendigkeit eines 400 Jahre alten farbig blitzenden Musikstils tänzerisch beschwingt und fröhlich interpretierte.  Ein Freiluftkonzert im Garten der Landesmusikakademie bewies, dass Jugend für anspruchsvolle Musik zu begeistern ist. Vorbereitet von den Renaissance-Spezialisten der Capella de la Torre, als Echopreisträger ausgezeichnet, musizierten 28 junge Leute Alte Musik mit disziplinierter Hingabe und beeindruckender Qualität.

 Als innovative Werbung für das Konzert „Michaels Traum von Italien“ präsentierten sich die Capella und der RIAS Kammerchor bei einem Stadtspaziergang mit Musik den Wolfenbüttelern. Die Resonanz des Publikums am nächsten Tag war dann auch äußerst lebhaft. Die in der Hauptkirche, der Begräbnisstätte des Komponisten, zu hörenden Choralkonzerte seiner späten, 1619 veröffentlichten Sammlung der Polyhymnia Panegyrica, gaben einen überwältigenden Eindruck von den opulenten Vokaltechniken, die die italienische Mehrchörigkeit in ganz Europa berühmt gemacht hatten.

Die Modernität der Barockkompositionen von Praetorius und Heinrich Schütz (1585 bis 1672) wurde im nächs­ten Konzert mit dem Titel „Musik im Umbruch“ einmal mehr erfahrbar. Die Werke wurden vom Ensemble Weser-Renaissance Bremen, Leitung Manfred Cordes, mit hoher Stilsicherheit interpretiert.

Ein echter Sinnenreiz war die Präsentation höfischer Tänze im Wolfenbütteler Schloss. Tanzgruppen aus Leipzig, Erfurt, Halle, Fulda und Freiburg folgten in historischen Kostümen dem Ruf von Mareike Greb, Leipzig, und Hubert Hazebroucq, Paris, beide professionelle Tanzmeister mit besonderer Begeisterung für die Renaissance. Das Publikum wurde Zeuge eines farbigen Gesamtkunstwerks von Musikalität und historischer Detailtreue. Eine andere Seite des Schaffens von Praetorius wurde mit einem Orgelkonzert lebendig. Im Mittelpunkt standen Choralbearbeitungen als Vorbereitung auf das Gemeindelied oder zur meditativen Reflektion der heiligen Worte. Kurz nach Ausbruch des 30-jährigen Krieges, 1619, veröffentlichte Michael Praetorius sein „Solennisches Friedt und Freudens-Concert“. Daraus wurden neun Choräle mit dem Ensemble Musica Fiata/La Capella Ducale, dirigiert von Roland Wilson, Spezialist für historische Aufführungspraxis, in der Hauptkirche zum Klingen gebracht. Auch hier beeindruckte die von 18 Instrumentalisten und 13 Choristen in ein barockes Klangspektakel verwandelte Musik.

Mit der Missa Ad Placitum von Claude Lejeune (1530–1600) stand dann eine ganz andere Stilrichtung auf dem Programm. Das, was bei Praetorius’ Chorälen auch eine Werbung für seinen herzoglichen Brotherren darstellte, zielt hier ausschließlich auf die Herzen der Gemeinde. Dem Canto Vivo Kammerchor, verstärkt durch das Renaissance-Ensemble Rosa Mundi aus Basel, gelang die harmonische Verschmelzung von Verinnerlichung, Intimität und Spiritualität. Den stimmungsvollen Abschluss des Gedenkjahres bildete das Adventskonzert des Knabenchors Hannover, Leitung Jörg Breiding. „Praetorius Plus“ hatten die Veranstalter die Satzfolge mit Werken aus Barock und der Moderne übertitelt. Den Wolfenbüttelern werden auch in Zukunft die Ideen nicht ausgehen. „Starke Frauen – Starke Stimmen“ lautet das Motto für die Konzerte 2022. Im Mittelpunkt wird die erstaunliche Musik von Sophie Elisabeth, der Ehefrau von Herzog August d. J., stehen. Solche Entdeckungen sind das Resultat des kulturellen Standortvorteils der Residenzstadt. Man wird die Wolfenbütteler im Auge behalten müssen.

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