Dem Raum folgt die Zeit. Zumindest tut sie das in der thematischen Sequenz der „cresc“ genannten Biennale für moderne Musik im Rhein-Main-Gebiet. Vor zwei Jahren stand mit „Musik und Raum“ Iannis Xenakis im Zentrum, logischerweise war nun die Zeit an der Reihe, und als deren Protagonist war der Komponist Bernd Alois Zimmermann bestimmt worden.
Und nachdem spätestens seit Einstein Raum und Zeit nicht mehr ohne einander auskommen, schon gar nicht in der Musik, zeigte sich, dass es beiden Komponisten im Grunde um das Gleiche ging: Die Gestaltung und Infragestellung von apriorischen Kategorien des Komponierens und der Wahrnehmung von Musik. Das Festival hatte im Jahre 2011 seine multidimensionale Premiere in einer Kooperation gewichtiger Institutionen des Musikbetriebs im Rhein-Main-Gebiet, dem Hessischen Rundfunk, dem Ensemble Modern und seiner Internationalen Ensemble Modern Akademie, der Frankfurter Musikhochschule, dem Internationalen Musikins-titut Darmstadt; in der aktuellen zweiten Folge kamen das Darmstädter Staatstheater und die Alte Oper Frankfurt hinzu. Der Kulturfonds Frankfurt RheinMain und mehrere Stiftungen fanden sich wiederum zur finanziellen Ermöglichung dieses Großereignisses zusammen, zu dem als Gast-Ensembles noch das Arditti Quartet und Alarm Will Sound unter der Leitung von Alan Pierson geladen waren. Ein großes Musikworkshop-Projekt mit Frankfurter Schülern und ein Kinderkonzert komplettierten das Programm, dessen Aspektreichtum dem Gewicht der hier kooperierenden Institutionen entsprach.
Zeit hat, laut Zimmermann, Kugelgestalt. Das klingt tiefschürfend und geheimnisvoll, ist aber nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern durchaus auch praktisch gemeint. Es geht um ein dramatisches Prinzip, das für Zimmermanns Musiktheater grundlegend ist und aus dem sich etliche ästhetische Leitlinien ableiten lassen. Es ist die Zeit der Wahrnehmung und Erfahrung, die Zeit der Musik und des Theaters, die sich zur Kugel krümmt und durchaus auch nach außen und innen verschließt. Es ist ein physisches und neurologisches Konzept der Gegenwart, jenes kurzen Zeit-Raums des Erlebens, den wir mit dem Wort „jetzt“ benennen; der knappe Zeitraum, den die begrenzten Fähigkeiten unseres Gehirns uns als Gegenwart zugänglich halten. In dieses flüchtige Jetzt ragen Vergangenheit und Zukunft als Horizontlinien, Motivations-Reservoir, als Inhalte des Vorstellungsvermögens hinein. Es gibt also in unserem Erfahrungs-Mikrokosmos die Gegenwart der Vergangenheit, die Gegenwart der Gegenwart und die Gegenwart der Zukunft; alles andere ist nicht erfahrbar. Wenn wir uns diesen Zeit-Raum als Kugel vorstellen, ist das eine anschauliche dreidimensionale Übersetzung. Sie legt nahe, dass die drei Quellen als zugleich erfahrbare präsent gemacht werden, etwa in Pa-rallel-Montage, Schichtung, Durchdringung, Synchronisation. Ein Entkommen der Wahrnehmung aus der geschlossenen Gestalt der Zeit scheint nicht möglich. Das geordnete Nacheinander des Erlebens ist allenfalls ein Wunsch, den unser Gehirn uns manchmal erfüllt. Zu diesem Wunsch verhält Zimmermanns Kompositionsweise sich gern materialreich und überfordernd – also fast wie die Wirklichkeit selbst, nur besser, nämlich sinnstiftend angeordnet. Zimmermanns Musik will niemanden wunschlos glücklich machen, sie will eher überwältigen, manchmal täuschen und meistens mehrdeutig sein.
Gleichwohl lässt sich nicht jede Komposition Zimmermanns dieser elaborierten Intention zuordnen, und von seiner pluralistischen Kompositionsästhetik der sechziger Jahre gab es in den Fünfzigern manchmal kaum mehr als Ahnungen. Das Festival ermöglichte darum eine konzentrierte Begegnung mit verschiedenen Wegmarken seiner Arbeit und dadurch auch einen Einblick in seine Entwicklung als Komponist, die Entfaltung seiner eigensinnigen pluralistischen Ästhetik während eines Zeitraums von knapp zwei Jahrzehnten. Zimmermanns „Sinfonie in einem Satz“, die virtuose Sonate für Violine solo (beides 1951) und das ebenso virtuose Konzert für Oboe und kleines Orchester (1952) wirken wie Stücke eines anderen Komponisten aus einer anderen Zeit, wenn man sie etwa mit der „Musique pour les soupers du Roi Ubu“ (1966) vergleicht, mit der das Festival eröffnet wurde. Die Sinfonie wurde vom hr-Sinfonieorchester unter der Leitungs Karl-Heinz Steffens in einen Kontext mit Messiaens inbrünstiger „Ascension“ gestellt. Andrea Kim spielte bravourös im Rahmen eines insgesamt erstaunlichen Programms aus drei Solosonaten Zimmermanns die mit hohen Schwierigkeiten verschwenderisch ausgestattete Sonate für Violine solo, und das Oboen-Konzert wurde vom hervorragend disponierten Ensemble Modern, verstärkt von Stipendiaten der Internationalen Ensemble Modern Akademie, und dem atemberaubenden Solisten Christian Hommel gespielt und bildeten etwas wie den Traditionskern des Festivals.
Die Ubu-Musik dagegen ist eine ’pataphysische Ballettmusik im Sinne Alfred Jarrys, die in einer semi-szenischen Aufführung mit groteskem Conférencier (Lukas Rüppel) auf einem Grat zwischen Klamauk und Satire agierte, ebenfalls vom Ensemble und seinen Stipendiaten aufgeführt. Schon in diesem Eröffnungskonzert zeigte das Festival seine programmatische Intention, indem Zimmermanns multiple Groteske in einen engen Zusammenhang mit drei Uraufführungen gestellt wurden, die auf je eigene Weise als Stellungnahmen zu Zimmermann und seiner Kompositionsweise zu lesen waren. Beat Furrers „bianca notte“ arbeitet sich mit vertrackter Technik an einem Künstlerschicksal ab, Arnulf Herrmanns „Fiktive Tänze – Zweiter Band“ variiert und überspannt fiktive Bewegungsmuster, und Vito Zurajs „Übürall“ verbindet den Jarry-Bezug mit einer Anordnung der Musik im Raum, die schon von fern auf das Requiem zu verweisen scheint.
Zusammen mit dem hr-Sinfonieorches-ter war das Ensemble Modern das performative Rückgrat des Festivals. Es vergrößerte sich im Bedarfsfall mit IEMA-Stipendiaten auf variable Orchestergrößen und -besetzungen und brachte insgesamt elf Uraufführungen ein. Und da wiederum das Institut für zeitgenössische Musik der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst an der Festival-Konzep-tion maßgeblich beteiligt war, gab es ein zweiteiliges Symposium, das bereichernde Zugänge und Hinweise zu Zimmermann präsentierte.
Das vergleichsweise frühe Beispiel einer stil-pluralistischen Kompositionsweise ist Zimmermanns vom hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Karl-Heinz-Steffens aufgeführtes Trompetenkonzert „Nobody Knows de Trouble I See“ (1954) mit dem Solisten Reinhold Friedrich. Zimmermann erwartet hier Musiker mit Jazz-Erfahrung, also nicht Jazz-Musiker im eigentlichen Sinne, sondern wohl ziemlich genau das, was Friedrich mit seiner brillanten und empathischen Interpretation zeigte. Erst beim Requiem wird dann eine veritable Jazz-Formation dem Orchester an die Seite gestellt.
Bei aller Intensität des Festivals ist es kaum zu vermeiden, dass ein an den Schluss platziertes „Requiem für einen jungen Dichter“ den Höhepunkt bildet. Matthias Pintscher, der als Dirigent schon am ersten „cresc“-Fetival maßgeblich beteiligt war, leitete die Aufführung. Die Alte Oper ermöglichte in ihrem Großen Saal den nötigen Surround-Klang mit hr-Sinfonieorchester und Mitgliedern der hr-Bigband, mehreren Chören, ausgefeilter Raum-Klang-Regie, mit Orgel und weitreichenden technischen Möglichkeiten – eine exemplarische Aufführung dieses Riesen-Werks, das in seiner vielgestaltigen Geschlossenheit wie kaum ein anderes die Kugelgestalt der musikalischen Zeit repräsentiert.