Musik egal welcher Kultur und Weltgegend wird immer begeistern, sofern die Musikerinnen und Musiker mit ihren Instrumenten und Singstimmen eine vollkommene geistig-körperliche Einheit bilden. Beim Kölner Festival ACHT BRÜCKEN war dies bei zwei thematisch profilierten Schwerpunkten häufiger zu erleben. Präsentiert wurden zehn Werke des Hauptkomponisten Enno Poppe sowie eine Fülle an Musik zum Thema Mikrotonalitäten unterschiedlichster Stilistik und Herkunft: türkisch, kretisch, arabisch, persisch, indisch, deutsch, europäisch und amerikanisch. Bei aller Verschiedenheit lag eine Gemeinsamkeit darin, dass diese Musik auf Tonsystemen, Skalen und Intonationen jenseits der europäischen Dur- und Moll-Tonleitern basierte. Das Festivalmotto „Feine Unterschiede“ entfaltete damit auch politische Implikationen als ein deutliches Plädoyer für Vielfalt statt Einfalt, Horizonterweiterung statt Dogmatik, Nuancen statt Frontbildung.
Das Kölner Festival „Acht Brücken“ – Musik aus der halben Welt und von Enno Poppe
Zwischentöne
Im Kölner Stadtgarten staunte man über das Trio Swaralayaamaaya und dessen traditionelle karnatische Musik aus dem südindischen Bangalore. Fantastische Melismen der ausstrahlungsstarken Sängerin Varijashree Venugopal wechselten mit rasend schnellen Hand- und Fingeraktionen der Trommler Guru Prasanna und B. C. Manjunath sowie ebenso perkussiven Silbenfolgen, Doppel- und Tripelzungenschlägen. Auf YouTube ist die Sängerin in mehreren Videos zu sehen, wie sie John Coltranes furioses Saxophonspiel stimmlich exakt mitgestaltet. Sagenhaft! Im WDR-Sendesaal legte Riccardo Novas einstündiges „Mahābhārata“ das indische Trio dann jedoch in Fesseln. Statt hellhörig und frei zu agieren, musste das Trio nun strikt dem Partiturspiel samt Clicktrack und Dirigent Peter Rundel folgen. Alle detailreiche Variation wurde durch minimalistische Wiederholungen und lautstarken Bombast des elektronisch verstärkten Ensemble Musikfabrik erstickt.
In der Lagerstätte für Hochwasserschutzelemente in Rodenkirchen spielte Klarinettistin Nina Janßen-Deinzer in Onur Türkmens Zyklus „Morn of Silence“ ekstatisch ausgreifende Melodien, die Sopranistin Peyee Chen mit umso größerer Ruhe beantwortete. Der türkische Komponist vertonte Verse des „Hohelieds“, zu denen sich ein Instrument sanft in das andere schmiegte als wärʼs ein Liebesakt. In Arda Bayrams „Package and Message“ wurde in die Kontrabassklarinette zunächst nur gewispert, bevor das riesige Instrument in der halligen Akustik wirkungsvoll seine tiefsten Register erdröhnen ließ. Das Remix Ensemble aus Porto ließ in der Kölner Philharmonie den elektronisch zugespielten Kammerton a = 440 Hertz über das Einstimmen hinaus direkt in James Tenneys „Critical Band“ gleiten. Mit minimalen Differenzen von 443 und 437 Hertz färbt das Ensemble den Liegeton und verursacht Schwebungen. Durch zunehmende Abweichungen entstehen irgendwann zwei Töne und schließlich Mehrklänge. In Klaus Langs „der pythagoräische Fächer“ sorgte die Orgel dann für droneartige Akkorde, die das Ensemble mikrotonal einfärbte und umstimmte.
Enno Poppe
Konzerte neuer Musik verlässt man selten restlos begeistert. Doch es gibt Stücke wie Hochleistungsbatterien, die von Ensembles als Kraftmaschinen angetrieben werden und eine Energie übertragen, die einen fast platzen lässt. Dazu gehören Stücke von Enno Poppe. 1969 im sauerländischen Hemer geboren, lebt der Komponist und Dirigent seit seinem Studium in Berlin. Bei ACHT BRÜCKEN wurde er – weltweit erstmalig – mit einem Porträt bedacht, das eine Auswahl von immerhin zehn seiner bisher insgesamt achtzig Werke umfasste. Seit 2000 entstandene Kammermusik- und große Ensemblewerke sowie zwei Uraufführungen offenbarten zentrale kompositorische und ästhetische Prinzipien dieses Œuvres, aber auch, dass es sich während gut zwanzig Jahren vor allem auf verschiedene Besetzungen und Gattungen vom Solo bis zum Musiktheater mit und ohne Elektronik ausgebreitet hat, aber keine Entwicklung zur wesentlich anderen Techniken, Materialbehandlungen oder Formensprachen erkennen lässt.
Unter Poppes Mitwirkung spielte das ensemble mosaik im WDR-Sendesaal sein inzwischen legendäres „Rundfunk“ für neun Synthesizer, uraufgeführt bei den Donaueschinger Musiktage 2018. Hier meint man, jeden kompositorischen Schritt in Echtzeit hörend mitvollziehen zu können, weil alle Entfaltungen immer wieder von einem einzelnen Ton ausgehen. Eine solche Übereinstimmung von Machart und Erlebbarkeit ist selten und nicht zuletzt ein Grund dafür, dass Publikum international von dieser Musik angetan ist, gerade auch in Ländern mit Musikkulturen, die wie Poppes Werke die Tonhöhen durch beliebig fein skalierbare Zwischenstufen, Triller, Vibrati und Glissandi flexibilisieren. In der Kölner Philharmonie dirigierte Poppe das Ensemble Musikfabrik bei „Prozession“, dessen Premiere während Corona nur gestreamt wurde und jetzt seine gefeierte Kölner Erstaufführung erlebte.
Schließlich leitete Poppe auch die Aufführung seines sechsteiligen Zyklus „Speicher“ mit dem ausgezeichneten Ensemblekollektiv Berlin. Kleinste Gesten und großformale Entwicklungen kamen diesmal ungleich plastischer zur Geltung als bei der Uraufführung durch das Klangforum Wien 2013 im muffigen Donaueschinger Mozartsaal. Wie in vielen Werken Poppe entfalten sich kleinste Zellen in mehreren Schüben zu großer Variantenvielfalt. Mit achtzig Minuten Dauer ist da Werk so lang wie Beethovens neunte oder Bruckners achte Symphonie. Wie dort gibt es eine formstiftende Dramaturgie von An- und Entspannung, Ruhe- und Höhepunkten, dissonanten Schrägheiten und sanften Lyrismen. Auf je andere Weise verdichten sich polyphone Texturen zu homophonen Passagen oder tumultuösen Ausbrüchen. Mehrmals eskalieren durcheinander laufende Partien zu orgiastischen Massenstrukturen und Schlingerkurven. Zudem lassen Soli historische Stilistiken anklingen: wilder Free-Jazz in Trompete und Posaune, Tango-Anklänge des Akkordeon, Ragtime-Rhythmen des Klaviers. Im anfangs ruhigen dritten Satz spielen die Streicher wahlweise wimmernde, seufzende oder lockende, flirtende Melodien, Glissandi, Vibrati. Man meint Lebewesen reden, fragen, antworten, klagen zu hören. Jede Geste entfaltet unwillkürlich eine bestimmte Expression.
Als Dirigent arbeitet Poppe mit dem ganzen Leib von Kopf bis Fuß bis in den kleinsten Finger hinein. Seine schlaksige Körperhaltung und Gestik wirkt oft kantig, rechteckig, verdreht. Doch immer gibt er den richtigen Impuls und eröffnet damit auch dem Publikum einen Zugang zur konkret körperlichen Fasslichkeit seiner Musik. Ebenso brillante Partner hatte sein neuestes Orchesterwerk „Strom“ im Kölner Gürzenich-Orchester unter GMD François-Xavier Roth. Mit klarem motivisch-thematischen Prozess befand sich das halbstündige Werk neben Mozart und Haydn in bester Gesellschaft. Ruhige Wechsel zweier Töne im Sekundabstand werden nach oben und unten verschoben, intervallisch gespreizt und mikrotonal gestaucht. So resultiert ein sanft pulsierendes und harmonisch immer dichteres Klangfeld. Auf den Wellen des Stroms tanzen dann auch hier vereinzelte Instrumentalsoli. Nach kurzer Kulmination folgt ein erneut ruhig beginnender zweiter Formteil. Zu strahlenden Dur- und Spektralakkorden treten nun dezente Trommelimpulse und die wiederkehrende Pendelbewegung, welche die Blechbläser forcieren und mit wilden Schlagzeugkaskaden zu einem Katastrophenmarsch à la Mahler oder Bernd Alois Zimmermann steigern. Intervallik und Instrumentation mögen primär strukturell motiviert sein, entfalten aber zugleich expressionistische Kraft. Im dritten Teil kulminieren die Tonwechsel von Hörnern und Pauken in schreienden Bläserakkorden, bevor der Fluss mit flirrend hohem Streicherpfeifen wie in glühendem Wüstensand versiegt.
Das Ensemble Recherche brachte Poppes vierzigminütiges „Laub“ zur Uraufführung. Beginnend als Streichtrio wird ein sanfter Liegeton rhythmisch und spieltechnisch variiert, dann zu anderen Tönen und schließlich zum Bläsertrio geführt. In die für Poppe typische Teilung der kleinen Terz in zwei Dreivierteltöne hört man sich so gut ein, dass das wohltemperierte Klavier plötzlich verstimmt klingt. Als Selbstverständlichkeiten missverstandene Kategorien der europäischen Kunstmusik werden so exemplarisch verflüssigt. Denn alles könnte auch anders sein – auch das eine gesellschaftspolitische Implikation. Im Konzert „Musik der Zeit“ des WDR-Sinfonieorchesters unter Leitung von Elena Schwarz sang Sopranistin Sarah Maria Sun den 2022 für sie komponierten Zyklus „Augen“. Poppe vertonte darin Verse von Else Lasker-Schüler altmeisterlich gekonnt wie Mahler oder Webern zu 25 ebenso kurzen wie in Gestik, Melodik und Instrumentation sprechende Miniaturen. Die frotzelnde Moderation durch Martin Zingsheim erregte allerdings Missfallen. Dem Comedian zufolge gab es bei Arnulf Herrmanns erschütterndem Orchesterwerk „manische Episode“ kräftig „etwas auf die Fresse“ und brach den als „Schwarzwurzeln“ veräppelten Oboen vor Clara Ianottas „in purple fuchsia“ angeblich der „kalte Angstschweiß“ aus. Wortbeiträge bei WDR3 kennzeichnen sonst fachliche Kompetenz sowie freundlich-unterhaltende, auch humorvolle Ansprache. Nun scheinen Witzeleien für ein paar müde Lacher wichtiger als informative Zugänge zu Musik. Dass dabei ausgerechnet diejenigen verulkt werden, die hoch professionell Musik komponieren, aufführen und gekommen sind, diese zu erleben, ist nicht lustig, sondern deplatziert und peinlich.
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