In einem Vorspiel vor dem Theater, das selbst Teil der Vorstellung ist, erklärt Lukas Bärfuss seine aktuelle Bearbeitung von Calderóns „El gran teatro del mundo“. Der Schweizer Autor und Dramatiker lässt Schauspieler Zeno Schneider in seiner Rolle als Autor die Aufführung von „Das große Welttheater“ kurzerhand absagen. Denn die allegorischen Figuren des Mysterienspiels verweigern sich. Der Bauer will nicht mehr schuften, der Arme nicht mehr arm sein, ohne den Armen gibt es auch keinen Reichen, der König hat abgedankt, die Schönheit gilt nichts mehr, und die Vernunft erklärt sich selbst für tot: Fine de la partie, noch bevor das Stück begann. Doch ein Mädchen, das schon monatelang seine Rolle als „ungeborenes Kind“ geprobt hat, bleibt hartnäckig und will zur Not alle Rollen selber verkörpern.
Das Leben ein Spiel?
Bärfuss lässt das Mädchen Emanuela dann tatsächlich ins Leben treten und als junge Frau, ältere Frau und schließlich Greisin sämtliche Schicksale der allegorischen Figuren durchlaufen. Während die Menschen zu Zeiten des spanischen Dichters noch durch Stand, Zunft und Familie festgelegte Rollen auszufüllen hatten, die am Tag des Jüngsten Gerichts über Himmel oder Hölle entscheiden, ist der moderne Mensch bei allen Zwängen und Vorprägungen – die es immer noch gibt – frei darin, seine Lebensrolle selbst zu wählen und nach eigenem Gutdünken auszufüllen oder gegebenenfalls zu wechseln. Bärfuss schrieb seine freie Neufassung von Calderóns katholischem „Auto Sacramentale“ von 1623 für die 17. Spielperiode auf dem Paradeplatz vor dem prachtvollen Benediktinerkloster Einsiedeln im Schweizer Kanton Schwyz.
Hier wird Calderóns „Welttheater“ seit 1924 in der deutschen Übersetzung von Joseph von Eichendorff alle sechs Jahre von rund fünfhundert Laiendarstellern und ehrenamtlichen Mitwirkenden aufgeführt. Mit Freitreppe und Balustraden bildete der Vorplatz der 1735 geweihten größten Kirche der Schweiz schon immer eine riesige Bühne für sakrale Feierlichkeiten, Prozessionen und festliche Pilgerzüge. Die ersten Aufführungen des „Welttheaters“ verstanden sich noch als Gottesdienste, die aus der Kirche hinaus ins Freie getragen wurden und an denen sich hunderte Gläubige beteiligten. Später verschob sich der Schwerpunkt mehr zu unterhaltend belehrendem Ausstattungs- und Volkstheater.
2000 und 2007 realisierten der Dichter Thomas Hürlimann – Absolvent der Stiftsschule Einsiedeln – und der Regisseur Volker Hesse erstmalig eine grundlegende Neufassung des „Einsiedler Welttheaters nach Calderón“. Die aktuelle Kooperation von Bärfuß mit Regisseur Livio Andreina sowie der Kostüm- und Bühnenbildnerin AnnaMaria Glaudemans und dem Choreografen Graham Smith hätte bereits 2020 gezeigt werden sollen, musste wegen Corona aber abgesagt werden. Die neue Version auf Schwyzerdütsch ist für Nicht-Schweizer zwar sprachlich schwer verständlich, bietet aber szenisch ein leicht zugängliches Volksschauspiel voller fantastischer Erscheinungen, farbenprächtiger Kostüme, eindrücklicher Licht-, Farb-, Nebel- und Explosionseffekte. Die Produktion bietet mit bewährten Effekten und opulenten Massenszenen zwar viel fürs Auge, läuft phasenweise aber gedanklich und emotional auf Sparflamme.
Sobald das Mädchen Emanuela seine Lebensrolle zu spielen beginnt, erscheint auch „Die Welt“ in der flatterhaften Gestalt von Michaela Trütsch mit großem Gefolge und viel wunderlichem Getier. Die personifizierte Welt wirbelt herum, wütet, tanzt, singt, lacht und lässt eine existentielle Situation in die nächste kippen. Betrieb Emanuela eben noch fleißig Ackerbau und Viehzucht, brechen im nächsten Moment Unwetter, Hitze, Dürre und Ungeziefer über die Bauern herein. Als junge Frau schwingt sich Emanuela zur furchterregenden Königin auf und lässt sich von einem faschistoiden Fahnenzug feiern. Als ältere Frau erleidet sie Verlust, Trauer, Armut. Durch Demagogie und Plünderung wird sie dann zur habgierigen Reichen und eitlen Schönheit. Schließlich stirbt sie als Greisin und endet mit ihr auch ihre individuelle Welt. Die Leben vieler anderer Menschen und deren Welten gehen dann jedoch erst auf als munter weiter kreisende große Schlussrevue aller Beteiligten.
Die teils live, teils zugespielte Musik von Bruno Amstad ist so vielstimmig wie die Welt. Polyglott werden verschiedene Stilistiken zur Gestaltung wechselnder Situationen genutzt. Unter der musikalischen Gesamtleitung von Susanne Theiler gibt es Tangoband, Blaskapelle, Sinfonieorchester, Chor, Gospel, Popsong, Punkrock, Hiphop, Gregorianik, Drumset, E- und Funk-Gitarre, Digeridoo, barockes Oboensolo und einen schmissigen Schlusssong zum Mitklatschen. Der 1962 in Stans geborene Amstad arbeitete als Soul-, Funk- und Rocksänger sowie in Jazz und Weltmusik. Seine Noten und eigenen Einspielungen für „Das große Welttheater“ konnte er gerade noch vollenden, bevor er im Januar 2024 verstarb.
Calderón und Bärfuss präsentieren beide eine Parabel auf die Welt und das Leben, indem sie Welt und Leben als Theater zeigen. Beides durchdringt sich in Einsiedeln auf besondere Weise dank der rund 220 mitwirkenden Laien auf der Bühne, die durch monatelanges Proben ihre individuellen Stimmen, Körper, Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten erfahren und erweitert haben. Ebenso viele Menschen erstellen in zahllosen Handarbeitsstunden die Ausstattung. Die ebenso langwierige wie intensive Entstehungs- und dann fast dreimonatige Präsentationsphase mit 35 Aufführungen bringt viele Menschen, Vereine, Firmen, Handwerker und Unternehmen zusammen, die sich im Alltagsleben sonst womöglich nicht kennengelernt hätten und nun vielleicht Freundschaften und Bünde fürs Leben knüpfen. So praktisch bestimmt „Das große Welttheater“ alle paar Jahre wieder das Leben in der kleinen Welt von Einsiedeln.
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