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Welttheater. Foto: Emanuel Ammon.

Welttheater. Foto: Emanuel Ammon.

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Das Leben ein Spiel? Seit hundert Jahren „Das große Welttheater“ im kleinen Einsiedeln

Vorspann / Teaser

Am Anfang steht das Ende. Voll Tatendrang stürmen zwei Kinder auf den großen Platz. Mädchen und Junge haben monatelang ihre Rolle als „ungeborene Kinder“ geprobt und wollen jetzt endlich „Das große Welttheater“ aufführen. Doch da tritt der Autor aus dem Kirchenportal und verkündet: das Spektakel ist abgesagt. Die allegorischen Figuren aus Calderóns „El gran teatro del mundo“, die durch Stand, Zunft, Familie festgelegte Rollen auszufüllen hatten, verweigern sich. Der Bauer will nicht mehr schuften, der Arme nicht mehr arm sein, ohne den Armen gibt es auch keinen Reichen, der König hat abgedankt, die Schönheit gilt nichts mehr, und die Vernunft erklärt sich selbst für tot: Fine de la partie noch bevor das Stück begann. Das Mädchen aber beharrt und will zur Not alle Rollen selber spielen.

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In einem Vorspiel vor dem Theater erklärt Lukas Bärfuß seine aktuelle Bearbeitung von Calderóns Mysterienspiel von 1623. Denn der moderne Mensch lebt nicht mehr wie zu Zeiten des spanischen Dichters in starren Lebensbahnen, die am Tag des Jüngsten Gerichts bewertet werden und über Eingang in Himmel oder Hölle entscheiden, sondern ist bei allen Zwängen und Vorprägungen – die es zweifellos immer noch gibt – frei darin, seine Rolle selbst zu wählen und nach eigenem Gutdünken auszufüllen oder gegebenenfalls zu wechseln. Bärfuß lässt daher das Mädchen Emanuela während all ihrer Lebensstationen als junge Frau, ältere Frau und schließlich Greisin sämtliche Schicksale der allegorischen Figuren durchlaufen. Der Schweizer Autor und Dramatiker schrieb seine freie Neufassung auf Schwyzerdütsch für die 17. Spielperiode auf dem Paradevorplatz des prachtvollen Benediktinerklosters Einsiedeln im Schweizer Kanton Schwyz. Seit 1924 wird hier Calderóns katholisches „Auto Sacramentale“ in der deutschen Übersetzung von Joseph von Eichendorff alle sechs Jahre von rund fünfhundert Laiendarstellern und ehrenamtlichen Mitwirkenden aufgeführt. Die aktuelle Kooperation von Bärfuß und Regisseur Livio Andreina hätte bereits 2020 gezeigt werden sollen, musste wegen Corona aber abgesagt werden. Seit Mitte Juni finden nun bis Anfang September insgesamt 35 Aufführungen statt.

Schauplatz sind Freitreppe und Vorplatz der 1735 geweihten Benediktinerabtei und Wallfahrtskirche „Unsere Liebe Frau von Einsiedeln“. Mit rahmenden Arkaden und Balustraden samt Vasen, Putti und Tugenddarstellungen bildet die barocke Repräsentationsarchitektur eine riesige Bühne, die immer schon für sakrale Feierlichkeiten, Prozessionen und festliche Pilgerzüge genutzt wurde. Die ersten Aufführungen des „Welttheaters“ verstanden sich hier noch als aus der Kirche hinaus getragene Gottesdienste, an denen sich hunderte gläubige Laiendarsteller beteiligten. Später verschob sich der Schwerpunkt mehr zu prächtig unterhaltendem Ausstattungstheater. Nach Ideen von Kostüm- und Bühnenbildnerin AnnaMaria Glaudemans bildeten dieses Mal zusätzliche Umläufe für Auftritte, Licht und Lautsprecher mit den zwei großen Publikumstribünen links und rechts des zentralen Marienbrunnens einen monumentalen Theaterkreis mit der größten Kirche der Schweiz als imposante Kulisse im Hintergrund. Eine erste schwyzerdütsche Textfassung war 1980 noch am Widerstand von Mitwirkenden und öffentlicher Meinung gescheitert. 2000 und 2007 realisierten dann der Dichter Thomas Hürlimann – Absolvent der Stiftsschule Einsiedeln – und der Regisseur Volker Hesse die erste grundlegende Neufassung des „Einsiedler Welttheaters nach Calderón“. Nun erarbeiteten Bärfuß und Andreina ein für Nicht-Schweizer zwar sprachlich schwer verständliches, szenisch aber leicht zugängliches und unterhaltendes Volksschauspiel voller fantastischer Erscheinungen, farbenprächtiger Kostüme, eindrücklicher Licht-, Farb-, Nebel- und Explosionseffekte.

Das Mädchen Emanuela nimmt alle Rollen an und tritt damit als „ungeborenes Kind“ ins Leben. Der von Zeno Schneider gespielte Autor ruft daraufhin „Die Welt“ auf den Plan. Diese erscheint prompt in der flatterhaften Gestalt von Michaela Trütsch mit großem Gefolge und mancherlei Getier, wirbelt herum, wütet, tanzt, singt, lacht, verlacht und lässt im Folgenden mit Zauberhand eine existentielle Situation in die andere umkippen. Herrschte eben noch fleißiger Ackerbau, brechen im nächsten Moment Unwetter, Hitze, Dürre und Ungeziefer über die Landleute herein. Als junge Frau wird Emanuela ein Liebespaar mit Jugendfreund Pablo, schwingt sich zur furchterregenden Königin auf, lässt sich von Polizeischergen abschotten und mit einem faschistoiden Fahnenzug feiern. Als ihr der Lebensfreund die Krone streitig macht, tötet sie ihn. Als ältere Frau erleidet sie Verlust, Trauer, Armut und erkennt, dass alle Leidenden, Versehrten, Prostituierten, Blinden, Lahmen, Obdachlosen und Müllsammler für ihre Schicksale nicht selbst verantwortlich sind, sondern der Autor, der sich dieses „Welttheater“ ausgedacht hat. Emanuela will nicht mehr nur ihre Rolle ausführen, sondern selbstbestimmter Mensch sein. Das von ihr anstachelte Volk erschlägt den Autor, plündert das Kloster und macht Emanuela zur habgierigen Reichen und eitlen Schönheit. Als Greisin bekommt sie von der Welt gesagt, dass mit ihrem Tod zwar auch ihre Welt untergeht, aber das Leben vieler anderer Menschen und deren Welten weitergeht. Und wie bunt und lebensfroh die Welt sich weiter dreht, demonstriert dann die große Schlussrevue aller Beteiligten inklusive Showgirls, Lightshow und Mitklatschen des Publikums.

Bärfuß führt viele neue Figuren ein, denen AnnaMaria Glaudemans fantasievolle Gestalt verleiht und Choreograf Graham Smith zu mehr oder minder ausstrahlungsstarken oder unbeholfen wirkenden Auftritten verhilft: „Die Dürre auf Stelzen“, „Der Mann mit dem Spiegel vor dem Gesicht“, „Die, die den letzten Baum auf Erden trägt“, „Die, die in den Kartons wohnen“, die „Pandemie“ mit großen Beulen am Leib, der „Waldbrand“ mit nach allen Seiten wehenden Fransen, eine Familie „mit Pflock im Kopf“, und die mit reichlich Füllmaterial dick und schwer über den Platz kullernde „Plattentektonik“. Textbuch und Regie stellen sich in die Tradition des Volkstheaters, das mit bewährten Theatereffekten und opulenten Massenszenen viel fürs Auge bietet, phasenweise jedoch gedanklich und emotional auf Sparflamme läuft. Die teils live gespielte, teils zugespielte Musik von Bruno Amstad nutzt verschiedene bekannte Stilistiken zur Gestaltung wechselnder Situationen. Unter musikalischer Gesamtleitung von Susanne Theiler geht es polyglott durch Tangoband, Blaskapelle, Sinfonieorchester, Chor, Gospel, Popsong, Punkrock, Hiphop, Gregorianik, Drumset, E- und Funk-Gitarre, Digeridoo und barockes Oboensolo bis zum marschartig schmissigen Schlusssong. Der 1962 in Stans geborene Amstad arbeitete mit verschiedenen Bands sowohl als Soul-, Funk- und Rocksänger als auch in den Bereichen Jazz und Weltmusik. Die Noten und eigenen Einspielungen für „Das große Welttheater“ konnte er gerade noch vollenden, bevor er im Januar 2024 nach schwerer Krankheit starb.

Wie Calderón zeigt Bärfuß sowohl eine Parabel auf Welt und Leben als auch Welt und Leben als Theater. Beides durchdringt sich im Einsiedler Welttheater besonders durch den Umstand, dass alle Mitwirkenden Laien sind. Unter Anleitung der Profis für Text, Regie, Choreografie, Kostüme sowie der Dramaturgin Judith Gerstenberg und Produktionsleiterin Claudia Capecchi dürfen rund 220 Bühnenakteure ihre individuellen Stimmen, Körper, Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten erfahren und erweitern. Monatelang wird geprobt und in tausenden Stunden Handarbeit die Ausstattung gefertigt. Die Produktion prägt den Rhythmus von Gemeinde, Vereinen, Firmen, Handwerkern, Unternehmen, Läden sowie die Biographien der Mitwirkenden. Der intensive Entstehungsprozess und die über fast drei Monate verteilten Aufführungen bringen viele Menschen generationsübergreifend zusammen, die sich im Alltagsleben sonst vielleicht nicht kennengelernt hätten, nun aber gemeinsam etwas Großes gestalten sowie Freundschaften und Bünde fürs Leben knüpfen. „Das große Welttheater“ schreibt sich so ganz praktisch in die kleine Welt von Einsiedeln.

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