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Camilla Nylund (Marie), Bo Skovhus (Wozzeck). FOTO: Karl Forster
Camilla Nylund (Marie), Bo Skovhus (Wozzeck). FOTO: Karl Forster
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Das letzte Stündlein eines Delinquenten – Alban Bergs „Wozzeck“ in Düsseldorf

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Im Repertoire der deutschsprachigen Musiktheater nimmt Alban Bergs „Wozzeck“ gegenwärtig einen Vorzugsplatz ein. Drei Produktionen konkurrieren, die erkennbar beanspruchen, sich – im Sinne Robert Schumanns – „auf der Höhe der Zeit“ zu bewegen: Die Bild- und Regiearbeit des William Kentridge, die im August bei den Salzburger Festspielen gezeigt wurde, die Inszenierung von Robert Carsen, die seit einer Woche im Theater an der Wien gezeigt wird, und nun Stefan Herheims Produktion an der Rheinoper in Düsseldorf.

Die Regiearbeit des Schauspielers, Regisseurs, Designers, Grafikers und Filmemachers William Kentridge rückte die Tragödie des Franz Wozzeck und seiner ihm entgleitenden Partnerin von Anfang bis Ende in eine überbordende Sammlung von Bildmotiven aus dem Kontext des Ersten Weltkrieg. In dessen langem Schatten entstand die Textkompilation und Komposition Alban Bergs – und die Soldatenwelt wie der Anklang ans Militärische haben in ihnen durchaus zentrale Bedeutung. Kentdriges exzessive Bildmächtigkeit profitierte in Salzburg in hohem Maß von der nur gelegentlichen „Entladung des Klangs“ aus dem eher leise-spröden Grundton der Oper. Die Wiener Philharmoniker sorgten für ein großes Spannungsverhältnis dank der stimmig dosierenden Leitung von Vladimir Jurowski. Dabei erwies sich im Kontext des in seiner Entfesselung gezeigten Militarismus die distinguierte Stimme Matthias Goernes für das zum Täter werdende Opfer Wozzeck als fast zu nobel.

Robert Carsen zielte in Wien mit strikter Reduktion des realistischen Ambientes auf eine durchmilitarisierte Gesellschaft im Wartezustand des „Friedens“: Der Kriegsheimkehrer Wozzeck und seine Beziehung scheitern in einer „Normalität“, in der nichts „normal“ ist. Die von Leo Hussain geleiteten Wiener Symphoniker unterstreichen dabei die Pointierung der kargen, freudlosen Welt mit einem ausgedünnten Orchestersatz (diese Version wurde für kleine Verhältnisse in Steinfurt/NRW angefertigt und soll nun auch im Großen vermarktet werden). Nicht nur der schärfere Ton grenzte sich von der Salzburger Festspielproduktion ab. Auch die Konzentration auf den Umgang der Umwelt mit dem geschundenen Anti-Helden des unvollendet gebliebenen Vormärz-Drama Georg Büchners. Die minutiös herausprozessierten Demütigungen, gegen die sich der alles andere als eloquente Franz W. nicht zur Wehr setzen kann, motivieren das Gewaltverbrechen an Marie. Wie z.B. Florian Boesch, mit dem Rücken zum Publikum und heruntergelassener Hose auf einem Toilettenstuhl sitzt, unter den strengen Blicken des Doktors seine Notdurft verrichten muss und das, was er sich abgepresst, zur wissenschaftlichen Aufarbeitung durch den mit einem Großversuch zur preiswerten Ernährung der Armee befassten Mediziners ergebenst auf den Schreibtisch stellt – das ist ein so brutal-schlichtes wie nachdrückliches Bild für die Gewalt der sozial Überlegenem im Alltag. Carsen spielte mit der Übersetzung der „Arme-Leut“-Metaphorik in eine unterentwickelte Region im späten 20. Jahrhundert. Das Publikum an der Linken Wienzeile klatsch froh, weil es vom einen wie dem anderen weit entfernt ist.

Ganz anderer Zugang

Stefan Herheim hat einen ganz anderen Zugang zum fortdauernd brisant erscheinenden Berg-Werk gesucht und gefunden: Er macht das Publikum zum Zeugen einer Hinrichtung. Der norwegische Theatermacher rekurriert damit auf das Schicksal des historisch verbürgten Perückenmachers Johann Christian Woyzeck, der durch die Langzeitwirkung Büchners verewigt wurde. Man hat den offensichtlich nicht wirklich gesunden Ex-Soldaten im August 1824 auf dem Leipziger Marktplatz geköpft. Herheim verlegte die Handlung in eine „lethal injection chamber“, einen Exekutionsraum nach US-amerikanischem Vorbild. Auf ein kurzes Vorspiel, in dem der Delinquent auf der Pritsche festgeschnallt auf die Frage nach einem letzten Wort nur „Hopp! Hopp!“ hervorwürgt – später die letzten Worte der Oper von Wozzecks kleinem Sohn – folgt die Verabreichung des Gifts. Dann läuft die Szenenfolge als Nahtod-Erfahrung Wozzecks im Zeitraffer ab. Die Titelfigur ist beständig auf der Bühne; sie darf zwar bald die Pritsche verlassen, kehrt jedoch immer wieder zu ihr zurück. Der letzte Spielraum ist klein. Damit führt der Regisseur ein aus den Hintergründen der Stoffgeschichte extrahiertes Narrativ ein. Er macht die OperngängerInnen zu VoyeurInnen der öffentliche Exekution – in Bergs Opernadaption ertrinkt der Täter bei dem Versuch, das in den See geworfene Messer wieder zu finden und besser zu entsorgen.

Womöglich in Reaktion auf die Überfrachtung der Folge szenischer Miniaturen durch Kentdrige erlegte sich Stefan Herheim – im Prinzip wie Carsen – strikte Beschränkung auf. Er vermied Bilderfluten und weit geöffnete Assoziationsräume, konzentrierte sich und die Zuschauer auf das Geschehen in der Todeszelle. Deren aseptische Wände werden diskret mit Video bespielt – mit Andeutungen von Mauersteinen. Bei der „Rückblende“ auf die tödliche Szene am Teich gibt’s aber auch Schemen einer Landschaft und Sternenhimmel. Die Zulieferfirma fettfilm hat diesmal mager aufgetragen – wohltuend wohldosiert. Das erlaubt die akkurate Wahrnehmung von Handlungs-Details und szenischen Leitmotiven. Wozzeck führt beständig das (Rasier-) Messer mit bei sich – bzw. der Hauptmann oder sonst einer drängt es ihm auf. Wenn Marie in einer „Scherbe“ ihr Gesicht und die Ohrringe betrachtet, mit denen der Tambourmajor ihre Liebesdienste honorierte, und dabei auf den sozialen Unterschied zu den „großen Madamen“ verweist, die ihr Selbstbewusstsein nicht zuletzt aus großen Spiegeln beziehen, dann nähert sich Wozzeck von hinten und hält dem „armen Weibsbild“ und „schlecht Mensch“ die Klinge als Spiegel vor.

Herheim beschränkt sich in Düsseldorf beim Freilegen von Sub- und Kontexten auf fast asketische Bilder, die nie die von Christof Hetzer unbarmherzig realistisch nachgebaute Hinrichtungskammer verlassen. Das geht zwar zu Lasten des „Realismus“ der Erzählung, öffnet aber die Möglichkeit, konsequent den jähen Brüchen von Bergs epochaler Partitur nachzuspüren. Aus dem Aufsichts- und Vollzugspersonal werden, sobald die Musik einsetzt, Peiniger. Eine Brecht-Gardine wird hin und wieder vorgezogen, wenn es eine szenische Verwandlung nahelegt (im Theater an der Wien kommt dasselbe Stilmittel zum Einsatz). Häufig springt das Geschehen auf der Bühne zwischen „realistisch“ gespielten Szenen und surrealistisch zugespitzten Momenten hin und her. Immer wieder reagieren die Sänger mit ausgefeilten überhöhten Gebärden – mit exaltierten Figuren des Ausdruckstanzes oder überzogen „expressionistischer“ Gestik, die an Stummfilm erinnert.

Durch die Verlegung in die Hinrichtungsstation entgeht Herheim der wohlfeilen Lösung, das „Arme-Leut“-Stück in ein heutiges prekäres Milieu zu beordern. Stattdessen lässt er immer wieder die Protagonisten aus dem beengten Kasten der Kammer heraustreten und sich bei aufgeblendetem Saallicht ans Publikum wenden. Die Schuld, die Wozzeck auf sich lädt, wird ihm – so der Tenor der Deutung – von „der Gesellschaft“ aufgezwungen. Herheims Inszenierung nimmt Züge einer bösen Revue und eines bizarr grausamen Kasperltheaters an, findet keinen versöhnlichen, stillen Moment. Selbst wenn Marie in der Bibel liest und bereut, ist der rastlose Wozzeck in ihrer Nähe. Es geht von ihm der Todeshauch dessen aus, der nicht mehr begnadigt werden kann.

Die Sänger-Darsteller folgen dem herausfordernden Regie-Konzept mit bedingungsloser Beglaubigung: Der grandiose Bo Skovhus in der Titelrolle lässt den Opernsänger vergessen. Er ist ein rastlos getriebener, sich permanent entäußernder Vulkan, der auch sängerisch mit Hochdruck arbeitet. Camilla Nylund riskiert als Marie alles: Sie spricht, schreit und lässt ihren leuchtenden Sopran immer wieder aufblühen. Matthias Klink ist ein grotesk überzeichneter Hauptmann, Corby Welch ein Tambourmajor mit Schmackes. Cornel Frey als Andres und Sami Luttinen als Doktor singen und agieren fulminant.

Zum Vorteil des Werks hatte sich Axel Kober für die reich orchestrierte Original-Version Alban Bergs entschieden. Aus dem Orchestergraben tönt es nun bisweilen allzu deftig und gelegentlich grob, aber das mag der Identifikation mit der grausam zugespitzten Lesart der Regie geschuldet sein. Claude Debussy meinte (von seinem dezidiert männlichen Standpunkt aus) bezüglich eines im fin de siècle entstandenen Hauptwerks, das, wie „Wozzeck“, eine misslingende und tödlich endende Zweierbeziehung mit fein nuancierter Musik pointierte: „Die Harmonien sind hier wie menschliche Arme und die Melodien wie die Nacken, die von den Armen umschlungen werden; man neigt sich über die Stirnen der Frauen, weil man durchaus wissen möchte, was hinter den Stirnen vorgeht“. Um eine insgesamt stimmige Produktion zu bewerkstelligen, käme es darauf an, die mit diesen poetischen Worten umrissenen Lineaturen und damit auch die Diskretion der verschlossenen Stirnen und Zärtlichkeiten zu realisieren.

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