Hauptbild
Studie über eine einzige braocke Geste: Michel van der Aa bei einer Probe. Foto: Lucerne Festival
Studie über eine einzige braocke Geste: Michel van der Aa bei einer Probe. Foto: Lucerne Festival
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Das Neue findet sich auch im Historischen

Untertitel
Das Freiburger Barockorchester in Luzern mit fünf Uraufführungen
Publikationsdatum
Body

„Neuland” war das Motto des diesjährigen Lucerne Festival. Ein neues Land der besonderen Art präsentierte dabei das Freiburger Barockorchester in Kooperation mit dem Siemens Arts Program: „About Baroque”, neueste Musik für historische Instrumente. Fünf junge europäische Komponisten – Juliane Klein und Benjamin Schweitzer (D), Rebecca Saunders (GB), Michel van der Aa (NL) und Nadir Vassena (CH) – schrieben exklusiv Werke für das renommierte Barockensemble.

Mit gewohnter größter Genauigkeit und gehöriger Spielfreude betreten die Barockspezialisten das ihnen fremde Terrain und bieten dank professioneller Selbstverständlichkeit faszinierende Ergebnisse. Das geht nur mit einem starken Förderer im Hintergrund: Ohne das Siemens Arts Program und dessen zwei Projektleiter Jens Cording und Katrin Beck, die Musiker wie Komponisten über einen langen Zeitraum begleitet haben, wäre ein solches Projekt kaum realisierbar gewesen. Denn man betrat hier Neuland in doppeltem Sinn.

Das Freiburger Barockorchester musste nicht nur neue Stücke erarbeiten, sondern auch die fremde Sprache des Partners auf Zeit kennen lernen. Über zwei Jahre hatte man Zeit, sich aneinander zu gewöhnen. Dazu kamen die Komponisten zu mehreren Barockprojekten des Orchesters, um sich mit dessen einzigartiger Spiel- und Kommunikationskultur vertraut zu machen, entwickelten anschließend das eigene Werk und erarbeiteten es in vielen Leseproben und intensiven Studienzeiten mit dem Orchester. Und was passiert, wenn fremde Welten aufeinanderprallen? Erstaunliches. Überraschend selbstverständlich greifen Alt und Neu ineinander, wenn Interpreten, um größte Offenheit bemüht, auf Komponisten treffen, die sich betont behutsam, vorsichtig forschend und lustvoll lauschend dem fremden Barockklang nähern. Dabei waren die Vorgaben äußerst schlicht: Die Werke sollten mit der tiefen Stimmung des Freiburger Barockorchesters arbeiten (415 Hertz), und sie sollten, wie das in der historischen Aufführungspraxis üblich ist, ohne Dirigent spielbar sein. Darüber hinaus war alles möglich.

So wurden denn auch viele Facetten ausgelotet: Juliane Klein etwa konzentrierte sich auf klangliche Metamorphosen in einem sehr flexibel aufeinander reagierenden Ensemble, Benjamin Schweitzer dagegen beschwor eher den Geist barocker Spielhaltung, indem er Leerstellen in seiner Partitur ließ, die es – wie im 18. Jahrhundert – von den Musikern zu füllen galt. Und auch wenn, wie Konzertmeister Gottfried von der Goltz formuliert, das Ganze wie beim Kochen ist („wir sind in der barocken Musik gewohnt, nach Erfahrung und Intuition zu kochen. Bei der Neuen Musik kocht man dagegen sehr oft nach Rezept”), so funktionierte das Zusammenspiel zwischen Intuition und Rezept doch ausnehmend gut. Nach anfänglichen Berührungsängsten bauten sich Ressentiments ab und die Ordnungsinstinkte der Musiker erwachten zuverlässig auch da, wo es sehr viele Fäden über freie Felder zu spinnen galt.
Das ist vielleicht das interessanteste Ergebnis dieses außergewöhnlichen Projekts: Natürlich war zu erwarten, dass hier nicht neobarocke Klänge entstehen, ebenso natürlich war mit der Versuchung der Komponisten zu rechnen, ihre Sprache dem fremden Ensemble überzustülpen und eine Musik zu schaffen, die auch von einem modernen Orchester hätte gespielt werden können. Und doch gab es jene Zwischentöne, jene Momente des Wechselspiels von Anpassung und Aneignung, in denen die Annäherung glückte. So etwa entdeckte Rebecca Saunders die quasi natürliche Affinität ihrer eigenen Sprache zum rauen, transparenten, obertonreichen Barockklang und entwickelte so hoch komplexe wie ungemein farbige Klangbilder, die wie eine Verlängerung und Vertiefung dessen wirkten, wonach sie auch sonst auf der Suche ist. So hörte Nadir Vassena in leisen und schier unendlichen Varianten den Einschwingvorgängen eines Tones und dem Phänomen barocker Artikulation nach, und so wagte es der am Minimalismus Andriessens geschulte Michel van der Aa, eine Studie über eine einzige barocke Geste vorzulegen – das am konsequentesten durchkomponierte Stück des Konzerts und in seiner frechen Wiederbelebung des concerto-grosso-Gedankens vielleicht auch das beeindruckendste.

Ein erstaunliches Projekt. Fünf junge europäische Komponisten wagen den Diskurs mit der Alten Musik, konfrontieren sich selbst mit der historischen Aufführungspraxis und finden ein opulent ausgestattetes und geradezu ideales Laboratorium vor, in dem sich lustvoll experimentierend Grenzen überschreiten lassen, in dem die Interpreten – die ungewohnterweise einmal lebende Komponisten vor sich haben, mit denen es sich auseinanderzusetzen gilt – bis zuletzt darum bemüht sind, eben jene Auseinandersetzung zu fordern, und in dem die Komponisten an der Verwirklichung ihrer Klangvision so lange wie sonst kaum feilen können.

Auf die Uraufführung in Luzern folgten die nächsten Stationen: Fränkischer Musiksommer, Berliner Festspiele, Konzerthaus Dortmund und im November das Huddersfield Contemporary Music Festival. Vielleicht kann ein solches Mammutprojekt einen Anstoß geben, dass die Neue Musik neue Impulse findet, dass die Originalklangspezialisten konfrontiert werden mit den Nöten und Freuden heutiger Komponisten, dass jene Komponisten unverbrauchte Klangmöglichkeiten und neue Spielhaltungen an die Hand bekommen.

Vielleicht schafft es das eine oder andere Stück, Eingang zu finden ins „normale“ Barock-Konzert-Repertoire. Vielleicht weichen langsam Grenzen zwischen dem Publikum Alter und Neuer Musik auf. Und vielleicht sogar ist das Interesse von auch anderen Komponisten und Orchestern geweckt, Ähnliches zu versuchen. Vielleicht wird „About Baroque“ auch ein einmaliges Experiment bleiben. Das aber ist letztlich nicht entscheidend. Viel entscheidender ist es, ein so hörbares Vergnügen daran zu haben, eine Vision zu verwirklichen.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!