„Die Geschichte des Orchesters ähnelt einer alten Familienchronik, oder genauer gesagt, sie berichtet von der Rivalität vieler alter Familien, die sich schließlich zusammentun, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen und zu geordneten Verhältnissen im Staat zu kommen.“
Die vom Musikkritiker und Musiksoziologen Paul Bekker, während der Weimarer Zeit bei der Frankfurter Zeitung tätig und „Erfinder“ des Begriffs Neue Musik, für sein auf Englisch im Exil geschriebenes Buch „Das Orchester“ verfasste Einleitung traf auf die gewissermaßen geniestreichhafte Dramaturgie des letzten Konzerts in der Reihe Forum Neue Musik des Hessischen Rundfunks im einfachen, im doppelten und im übertragenen Sinn zu: Futter für Herz und Hirn, Gefühl und Verstand – nach Kant die beiden Vernunftkomponenten im Lichte der Aufklärung.
Das Programm mit Werken von Gerald Barry, Gordon Kampe, David Sawer, Philippe Schoeller und dem Jubilar Friedrich Cerha, geboren 1926, war selbst schon Komposition. Das hr-Sinfonieorchester präsentierte sich unter der faszinierend sachlich wirkenden Leitung von Stefan Asbury als wahrlich organisch atmender Klangkörper – ohne auch nur ein schwarzes Schaf in den Instrumentenfamilien.
Was der Ire Gerald Barry als „Wiener Blut“ aus zunächst zeitverschobenen Marsch- und Walzerakkoladen den Musikern an korallenhaft-choralartigem Klangwachstum entlockte, gemahnte am Ende mit Frageklauseln der Trompete an Charles Ives unbeantworteten Fragen auf schwankendem Klanggrund tremolierender Blockbildung. Johannes Brahms bei Strauß-Walzerkönig untergehakt durch die Wiener Neustadt flanierend, von Andy Warhol als Pop-Art-Piktogramm siebgedruckt – das war Barrys Musik, ein Zurück zum grellen Klischee, dessen zuckerwattige Kontur sich beim ersten Biss ins klangliche Nirwana verflüchtigte – verdammt lang her, daß man bei Euch am Grab stand.
Und wie in jeder guten Familie bestimmt die zugelassene Tagesform der Nähe oder Ferne zum Erzeuger das Maß der Minderwertigkeitskomplexe. Bei dem authentischen Wiener Friedrich Cerha, vor allem bekannt geworden durch seine „Vollendung“ von Alban Bergs Opernfragment „Lulu“, liegt der Ursprung der Musik in flirrenden, zarten Metallklängen, sphärisch, ätherisch, zeitentrückt und auratisch vor der klanglichen Befruchtung, Schlegel und Metallstab noch voneinander getrennt. In Cerhas Orchesterfamilie sind die Streicher eben nicht die Patrizier und der Rest Fußvolk. Es ist für alle gedeckt und wer kommt, ist willkommen, auch die Musikanten der Straße, der Kirche, des Volks, der Nachtclubs oder aus fernen Ländern.
In seiner raumgreifenden Komposition „Langegger Nachtmusik III“, vor fünfzehn Jahren zum 200. Todestag von Mozart für zwei Orchestergruppen entstanden, spielt die Gitarre mit „erlaubtem“ Vibrato, die Harfe klingt romantisch und die Röhrenglocken läuten tatsächlich zur Messe, zumindest zur Andacht.
Das Akkordeon (Schifferklavier) erzählt sentimental von fernen Ländern und die chinesischen Gongs bestätigen eifrig, wie exotisch die Welt woanders auch noch sein kann. Gleich hinter Grinzing, wo aus Wohngemeinschaftsfenstern Bongos und Tuba klingen. Cerha, Doyen des Komponierens in Österreich, dessen sozialkritische Oper „Der Rattenfänger“ erst vor kurzem in Darmstadt bewundert werden konnte, zeigt eindringlich, mitreißend, schön und schön sperrig, durchgehört und betörend, dass es in der Neuen Musik der letzten dreißig Jahre neben Großkompositionen mit Inhalten von Geknebelten, Geknechteten und Gefolterten auch noch ganz andere, eben nicht beim vermeintlich schlechten Gewissen ansetzende Bekenntnismusik gab und gibt, die sich nicht dem Betrieb affirmativ anbiedert.
Selten konnte man derart bruchlos fließende Übergänge zwischen den unzähligen kleinen und großen Ensembles in ein und derselben Orchesterkomposition hören, wie hier vom hr-Sinfonieorchester gespielt. Ein Meister des kleinsten Übergangs, wie Adorno seinen Lehrer Berg einst nannte, ist auch Sohn Cerha. Er überbrückt damit Ozeane und muss dafür nicht weit reisen. Ein Wiener Vollblut.