Für Ensembles und Institutionen des Musikbetriebs kann das Beethoven-Jahr 2020 ein echtes Problem sein. Man muss mit, selbst man nicht will, man gerät unter Zugzwang, obwohl nicht klar ist, wohin es gehen soll. Noch so mustergültige Aufführungen von Beethovens Werken bestätigen doch nur seinen kanonischen Status, und die jetzt viel beschworene Modernität Beethovens, wie kann sie mehr werden, als nur eine Behauptung? Mögliche Antwort auf dieses Problem: eine Akademie.
Historisch betrachtet war das der Name jener ausufernden und heterogenen Konzertveranstaltungen, in denen Beethoven seine Werke „zu seinem Vortheil“, also auf eigene Rechnung, in Wien vorstellte. Berühmt ist besonders die Akademie aus dem Dezember 1808, in der unter anderem die fünfte und die sechste Sinfonie zum ersten Mal erklangen. Schon zu Beginn des Jubiläumsjahrs im Januar haben Thomas Hengelbrock mit dem Balthasar-Neumann-Ensemble wie auch Philippe Jordan mit den Wiener Symphonikern dieses Konzertprogramm in voller Länge wieder auf die Bühne gebracht.
Wenig später hat jetzt das Gürzenich-Orchester Köln nachgelegt, allerdings mit einer „neuen Akademie“. Unter diesem Titel haben der Kölner GMD François-Xavier Roth, der Pianist Pierre-Laurent Aimard und Patrick Hahn, der künstlerische Planer des Gürzenich-Orchesters, eine „Beethoven-Séance“ in der Kölner Philharmonie konzipiert, die ebenfalls an das historische Vorbild anschließt. Sie rekonstruiert aber keinen historischen Programmablauf, sondern versucht, den Eindruck von Spannung, Fülle und vielleicht sogar Überforderung zu beschwören, den die Akademie von 1808 ausgelöst haben mag.
Die „neue Akademie“, die nach den drei Kölner Aufführungen noch auf Tour unter anderem nach London und München ging, basiert auf unterschiedlicher, ineinander verschränkter Musik: Ausschnitte vor allem aus den Sinfonien Beethovens (Hat da jemand „Häppchenkultur“ gesagt?), Werken von Helmut Lachenmann und Bernd Alois Zimmermann sowie Uraufführungen von Francesco Filidei und Isabel Mundry. Alles das schließt ohne Unterbrechungen direkt aneinander an. Gegliedert wird dieser Ereignisstrom jedoch durch subtil sich verändernde Lichtstimmungen (Bernd Purkrabek) und choreographierte Bewegungen der Orchestermitglieder (Jörg Weinöhl). Diese Arbeit an einem Rahmen, der nichts Äußerliches bleibt, sondern das Verhältnis zu den Gegenständen neu zu bestimmen ermöglicht, verankert neuere Entwicklungen des Konzertdesigns auch beim traditionsreichen Gürzenich-Orchester. Für Patrick Hahn, den verantwortlichen Dramaturgen, ist das Ganze aber schlicht – ja, genau, selbstbewusste Dramaturgie.
Man kann sich die Vorbehalte gegen das Projekt leicht ausmalen: Hört sich alles super an, aber doch auch ziemlich gewollt, oder? Dieser Vorwurf, er läuft völlig ins Leere, weil die Bausteine so eng verfugt sind, weil die szenischen Effekte so minimalistisch wie zielsicher sind, weil die Querbezüge innerhalb des Programms so mannigfach sind. Dementsprechend schwer fällt es, den Konzertabend routiniert kritisch zu sezieren. Durchkreuzt wurde diese Haltung auch dadurch, dass im Programmheft gar kein Ablauf abgedruckt worden war, sondern nur der Hinweis: „Das detaillierte Programm erhalten Sie nach dem Konzert kostenlos am Ausgang.“ Dennoch gelingt das Sich-Einhören in den durchkomponierten Abend relativ leicht. Man sitzt auf seinem Platz und schwankt zwischen entspannter Konzentration und leicht nervöser Anspannung, weil man tatsächlich mit dem Unerwartbaren rechnen muss.
Entscheidend für den musikalischen Zusammenhalt sind Isabel Mundrys Orchesterfragmente zu Beethoven I-V, die als Interludien zwischen Beethoven und den anderen Werken passgenau komponiert sind. Die Nr. I daraus, mit der das Konzert beginnt, greift das Adagio aus der „Mondscheinsonate“ auf. Durch die Verteilung auf mehrere Instrumente und geräuschhafte Hinzufügungen erscheint das einfache Stück in cis-Moll für einen Moment wieder so geheimnisvoll, wie der klischeebeladene Beiname es einmal angedeutet hat. Nichts davon bei Francesco Filidei, dessen neues Werk Quasi una bagatella sich auf Beethovens fünftes Klavierkonzert bezieht und humorvoll daran geht, kadenzierende Gesten, Tonleitern und Arpeggien zerfallen zu lassen, bis hin zu den isolierten Einzeltönen, die Pierre-Laurent Aimard in die Generalpausen hineinzuspielen hat.
Vielleicht erst in dieser speziellen Dramaturgie entsteht auch aus der Gegenüberstellung von Beethovens Instrumentalmusik und Helmut Lachenmanns Tableau eine Aufforderung, beides aufeinander zu beziehen und mit neuer Offenheit wahrzunehmen. Der Schluss des Abends könnte ebenfalls kaum vielschichtiger sein: Photoptosis von Bernd Alois Zimmermann, dessen Oper Die Soldaten François-Xavier Roth und das Gürzenich-Orchester in Köln 2018 beeindruckend umgesetzt hatten, zitiert an einer Stelle Beethovens Neunte. Eigentlich ist es als Präludium konzipiert, in der Tradition der Festouvertüre. Ist dieses Ende also auch ein Anfang? „Das Programm stellt mehr Fragen, als es Antworten gibt“, hatte Patrick Hahn vor Beginn erklärt. Es ist nicht das Schlechteste, was man von einer Jubiläumsfeier sagen kann.
Um auch der langen Dauer der historischen Wiener Akademie nahezukommen, schloss sich am zweiten der drei Konzertabende an das fast zweieinhalbstündige Programm in der Philharmonie noch eine „Nacht-Akademie“ an. Teil dieser After-Show-Party im nahegelegenen Alten Wartesaal waren Klavier- und Kammermusik von Beethoven, Elliott Carter und György Ligeti sowie ein entspannter Pierre-Laurent Aimard, der hier auch noch als Anekdotenerzähler glänzte.