Bunt geht es auf der Bühne im Haus des Rundfunks zu. Wo sonst sich Orchester an einer „Musik der Gegenwart“ versuchen oder gar zum Festival „Ultraschall“ abheben, bieten jetzt grüne und blaue Regenschirme Schutz – vielleicht vor der menschenähnlichen Figur, deren Kopf manchmal rot aufleuchtet? Luftballons, knallrote Müllsäcke und ein rosa Teddybär sind weitere Requisiten auf der von Thomas David Mairs gestalteten Bühne für dieses szenische Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Das sitzt diesmal, von seinem Chef Vladimir Jurowski geleitet, im Zuschauerraum, auf Tuchfühlung mit dem Publikum.
„Mensch. Musik!“ heißt das neue Projekt des Orchesters, mit dem sowohl Grenzen zwischen musikalischen Genres aufgehoben als auch die beteiligten Menschen, Publikum und Musiker:innen, für Gesellschaftsfragen sensibilisiert werden sollen. Nach „Über Brücken“ und „Zukunftswelten“ drängt sich am internationalen „Earth Day“ das Thema „Hotspot Erde“ geradezu auf. Mit Recht: Trotz Corona und Krieg (als größtem Umweltzerstörer) bleibt dieses wichtigste Menschheitsthema beklemmend aktuell. Szenisch/Literarisches und Musikalisches greift zunächst erhellend ineinander. Da spricht ein schwarzgewandeter Chor, der sich aus dem „Cantus Domus“ und den „Fixen Nixen“ zusammensetzt, Brechts bekanntes Gedicht von den „finsteren Zeiten“, in denen ein „Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen“ ist, wenn es andere Untaten und vor allem Ursachen verschweigt (Textauswahl und -rezitation: Marion Brasch und Manuel Rivera). Wenn dann die ersten lang ausgehaltenen „Stimmen der Natur“ von Alfred Schnittke zu nervösen Vibraphon-Tremoli erklingen, räumen die nicht am Gesang beteiligten Chormitglieder allerhand Müll beiseite – erste Anzeichen einer eher äußerlichen Entsprechung von Szene (Konzept und Umsetzung: Neil Barry Moss und Teresa Reiber) und musikalischer Zusammenstellung (Jurowski).
Es fasziniert noch, wenn nach Ausführungen über die Vernichtung des Amazonas-Regenwalds das „Chaos“ aus der „Symphonie nouvelle“ mit dem Titel „Die Elemente“ des französischen Barock-Komponisten Jean-Féry Rebel mit einem veritabel, dumpfen Cluster dreinfährt. Herbe Ausdruckskraft geht von den vibratoarm spielenden RSB-Streichern auch in Auszügen aus Haydns „Jahrezeiten“ aus – schade nur, dass man von Siyabonga Maqungos intensivem Tenorgesang kaum ein Wort versteht. Die reichliches Bildmaterial versendenden Monitore hätten auch den Oratorientext in einen deutlicheren Zusammenhang zur Szene stellen können. Aber offensichtlich reicht es, wenn Wäsche aufgehängt – ja doch, auch ein Mann klammert sein T-Shirt an die Leine! - und Erntegut in großen Körben herumgetragen wird. Wenn ein Eisloch gehackt und neben großen Fischen auch mal ein Schuh gefangen wird, konterkarieren das Videos von Massenfischfang und -tierhaltung.
So weit, so gut – doch mit welchem Ziel? Ist es Sehnsucht nach vermeintlichen Idyllen, wenn Moss an Schultafeln „Sieben Todsünden“ und „Sieben Tugenden“ aufschreiben lässt? Ist „Demut“ und Keuschheit“ wirklich die Lösung gegenüber „Zorn“ und „Wollust?“ „Völlerei“ mag in unseren gesättigten Breiten verwerflich sein – und im Rest der Welt? Debussys „Sirenen“ wirken da in ihrer Sinnlichkeit wie eine böse einschmeichelnde Verführung, die die Verfechter von Bescheidenheit und Verzicht schleunigst auf den Index setzen sollten.
Es ist dieser Anschein unreflektierter Nostalgie, der zusammen mit sich auf die Dauer abnutzenden Bildern von der Musik eher ablenkt, statt dass ein sich intensivierendes Miteinander entsteht. Dabei hat das RSB ebenso scharf kommentierende wie gleißend emotionale Klänge von Mischa Tangian, Eden Lonsdale und Peter Sculthorpe (mit einem eindringlichen „Schrei der Erde“) zu bieten. Uneindeutigkeit zum Schluss vermitteln „Marys Lied“ aus Alfred Schnittkes Filmmusik zu „Kleine Tragödien“ nach Alexander Puschkin, wogende Kornfelder und mit Gläubigen gefüllte Kirchen besingend, sowie der recht erdenschwer gebotene „Abschied“ aus Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ – geht es um Trauer oder Trost, Anklage oder Beschwichtigung? Da hilft die Schlusspirouette der Mezzosopranistin Gala El Hadidi auch nicht weiter. Diskussionsstoff genug jedenfalls für ein recht junges Publikum, das sich offensichtlich gut unterhalten fühlt und den heterogenen Klang-Bilderbogen heftig beklatscht.