Die Kabine der Schatzalp-Bahn ist um 20 Uhr schon voll, doch ein Kontrabassist samt Instrument muss noch mit. Das Festivalpublikum rückt also noch dichter zusammen, um dem jungen Musiker, der gemeinsam mit 80 Kolleginnen und Kollegen das zweiwöchige Davos Festival (Young Artists in Concert) belebt, die Fahrt zum bekannten Berghotel zu ermöglichen. Dem ehemaligen Tuberkulose-Sanatorium auf 1861 Meter Höhe hat Thomas Mann in seinem Roman „Der Zauberberg“ ein Denkmal gesetzt. An diesem Abend ist der prachtvolle Jugendstilbau Kulisse für ein vierteiliges Konzert unter der Überschrift „Guten Abend, gut‘ Nacht“.
Ein junges Bläserensemble samt Kontrabassistin spielt zunächst im Freien Wolfgang Amadeus Mozarts c-Moll-Serenade. Die Zuhörer verfolgen die Interpretation im Sitzen, Liegen oder Stehen – oder lauschen den Tönen spazierengehend mit einem Blick auf die atemberaubende Berglandschaft. Die Sommerhitze weicht abendlicher Frische.
Das diesjährige Kammermusikfestival ist das letzte von Intendant Reto Bieri. Fünf Festivalausgaben hat der 43-jährige Klarinettist und Kammermusikprofessor verantwortet. Für sein Konzertprogramm hat er Mottos aus dem Alltag gefunden wie „Kreisverkehr“ oder „Familienzone“, anhand derer er auf spielerische, auch humorvolle Weise grundsätzliche Fragen stellt. Es geht dem Schweizer um das Schärfen der Wahrnehmung – und durchaus auch um gesellschaftliche Veränderungen durch Musik. Zum diesjährigen Thema „Heute Ruhetag“ räsoniert der Querdenker: „Auf der einen Seite gibt es in Möbelhäusern große Bettenlandschaften zu bestaunen, auf der anderen Seite wird der Schlaf gar nicht kultiviert. Ruhe wird ja häufig mit Müdigkeit und Schwäche in Verbindung gebracht. Das sind in unserer Gesellschaft unpopuläre Begriffe, die sofort dem Kranksein zugeordnet werden“, bemerkt Bieri im persönlichen Gespräch. „Dabei hat für mich die Schwäche, die Hinfälligkeit eine so große Bedeutung, vor allem auch musikalischer Art. Wenn man beispielsweise einen Ton anspielt, dann beginnt sogleich eine Schwäche, eine Hinfälligkeit, ein Absterben. Das ist für mich die wirkliche Dramatik des Lebens.“
Im vierteiligen Konzert auf der Schatzalp erfährt der Zuhörer im wohnzimmerähnlichen Saal des Hotels, was es mit dem Vers „Mit Näglein besteckt“ in Johannes Brahms‘ Lied „Gute Abend, gut‘ Nacht“ auf sich hat. Drei im Dirndl gekleideten Damen des Festivalchores verteilen Gewürznelken an die Zuhörer und singen danach dreistimmig Alexander Baumanns Mundart-Lied „‘S is anderscht“, mit dem Bertha Porubsky einst dem verliebten Komponisten einen Korb gab. Dass der Enttäuschte viele Jahre später diese Melodie in der Klavierbegleitung seines Wiegenliedes versteckt hat und es sogar der inzwischen mit dem Industriellen Arthur Faber verheirateten Dame widmete, ist eine geheime Botschaft der besonderen Art.
Spaß an diesen musikalischen Verwicklungen
Reto Bieri hat Spaß an diesen musikalischen Verwicklungen. Mit gutem Gespür für Stimmungen und Querverbindungen komponiert er seine Konzertprogramme, in denen wie auf der Schatzalp die fragile Musik von Salvatore Sciarrino („Vagabonde blu“ für Akkordeon) von der an Chopin erinnernden Nocturne für Klavier von Dobrinka Tabakova, Composer in Residence, weich gebettet wird. Immer mit der Fragestellung: „Wie bekommen wir schwierige, komplexe Werke so an die Menschen heran, dass sie nicht mehr ausweichen können und die Konzerterfahrung mit dem eigenen Leben verbinden?“ Aber auch Irritation ist Teil seiner Dramaturgie, wenn Fabian Ziegler kurz vor Mitternacht im engen Raum der Talstation in einem langen Crescendo auf einem Gong wirbelt oder Tom Tafel von der Kanzel der Kirche St. Johann Ernst Eggimanns „Fluechfuge“ rezitiert. Nicht immer ist die Ausführung so brillant wie die Idee. Das von Bieri selbst moderierte Gespräch mit der herzchirurgischen Anästhesistin Ruth Gattiker (Jahrgang 1923) in der Pauluskirche verheddert sich in Anekdoten. Die Uraufführung von Leo Dicks Kammeroper „Aus dem Leben einer Matratze bester Machart“ nach einem Text von Tim Krohn im Hotel Morosani Schweizerhof hinterlässt keinen nachhaltigen Eindruck. Der Mut zum Experiment, den man beim Davos Festival immer wieder spürt, ist jedoch bemerkenswert.
Aber auch rein musikalisch gibt es echte Höhepunkte, wenn etwa das Quartet Berlin Tokyo das Publikum mit einer lichten, perfekt ausbalancierten Interpretation von Haydns Streichquartett in Es-Dur op. 76,6 verzückt oder die Pianistin Claire Huangci Morton Feldmans rund einstündige Komposition „For Bunita Marcus“ mit Sorgfalt und Sensibilität zu einer berührenden Hörerfahrung macht. „Ruhe ist etwas ganz anderes als Stille. Die meisten Leute werden ja sehr unruhig, wenn es still wird. Kinder kann man gerade durch Bewegung beruhigen, indem man sie in den Schlaf wiegt. Über die Bewegung kommt der Mensch zur Ruhe– dieser äußerst musikalische Umgang mit einem scheinbar widersprüchlichen Phänomen ist in allen Kulturen der Welt zu beobachten“, erklärt Bieri das Festivalmotto. Die Festivalwanderung nimmt es wörtlich und lässt Goethes Gedicht „Über allen Wipfeln ist Ruh‘“ mit Kuhglocken, dem Bläserquintett Ensemble Ouranos, Volksliedern, Älpler Makkaroni auf der Clavadeler Alp und guten Gesprächen zusammentreffen. Bei Klaus Hubers „Winter Seeds“ für Akkordeon (Stefanie Mirwald) fängt in der gedrungenen Holzhütte zwischen Ziegenfellen und Gamsgeweihen der Begleithund an zu bellen, ehe er sich von der Musik besänftigen lässt und friedlich in der Ecke liegt. Heute Ruhetag!
- Davos Festival, noch bis 18. August 2018, www.davosfestival.ch