Dieses Mal verschwindet keine Figur wie in den letzten drei Inszenierungen Benedikt von Peters, sondern es gibt eine dazu: Nicht ganz, denn Eva aus Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ ist als Rolle ja da. Aber die Rolle ist rein musikalisch klein, das arme Mädchen hat nichts zu sagen. Das nutzt Benedikt von Peter in seiner Inszenierung von Wagners ebenso klarem wie abgründigem Werk: Eva ist über fünf Stunden auf der vorderen, sehr kleinen Bühne anwesend und in ihrem Gesicht und ihrer Körperhaltung spiegelt sich das ganze für sie traumatische Geschehen.
Dadurch wird ihre durchaus ambivalente Haltung zu Sachs herausgearbeitet: sie ist bei ihm groß geworden und der alternde Mann verträgt ihre „Emanzipation“ nicht. Sie träumt sich weg, liest ein Buch, das „Der fremde Ritter“ heißt, schleppt als Puppe eine kleine Ritterfigur mit sich herum, bis der – Walter von Stolzing – plötzlich wirklich da ist. Aus ist es mit Sachsens Güte und das Psychodrama zwischen den beiden bestimmt den weiteren Fortgang.
Als Sachs erkennen muss, dass sein Paradies zerstört ist, verlegt er sich auf eine Strategie, die das System letztendlich erhält: Walters Preislied mutiert unter seinem Einfluss von einem emphatischen Liebesgesang zur die Regeln der Meistersinger erfüllenden Preisbewerbung. Das ist höchst nachdenkenswert angesichts der Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Uraufführung (1868) die Gründung von Bayreuth, also die Institutionalisierung der (Kunst-)Revolution unmittelbar bevorstand. Aus Sachs‘ Ohnmacht, sich das Mädchen zu erhalten, wird maßlos übergreifende Allmacht: Im Preislied ist Walter nur noch seine Marionette und Eva als Prämie eine entsexualisierte Muse. Das wird mit oft erschütternden Zeichen deutlich: wenn Sachs ihr die zu klein gewordenen Schuhe – der Schuh ist dann auf der Festwiese auch auf den Fähnchen zu erkennen – mit Klebeband anzwingt, wenn seine begehrlichen Blicke in gerade noch und manchmal eben nicht mehr zurückgehaltene Gewalt übergehen. Und Evas „Preislied“ auf Sachs, dass sie ihm alles verdanke, ist nackte Angst.
Eva zerschellt im totalitären Patriarchat, das in dieser mitreißenden, mit ihren fünfeinhalb Stunden keine Sekunde zu langen Inszenierung aufregend gebaut ist: das Orchester auf der Bühne auf einem riesigen Gerüst, das unter sich die Kirche, Nürnberg, die Schustersstube und die Festwiese birgt, mit ein paar Utensilien wie einem Geranienkasten oder auch trocknender Wäsche (Bühne von Katrin Witig). Und die Meistersinger: die erscheinen in wunderbaren, manches Historische zitierenden Fantasiekostümen (Geraldine Arnold), eine unwahre Märchenwelt in sich. Alle Einzelporträts darin sind hinreißend gelungen, besonders die selbstgefällig-dümmliche Protzigkeit von Veit Pogner, der seine Tochter als Preis anbietet. Dann David, eine Mischung aus Geschlagenem – Sachs greift durchaus zum Knieriemen – und Streber. Oder auch der Merker Beckmesser, ein böser unglücklicher Mensch, mit dem Wagner dem Kritiker Eduard Hanslick eins auswischen wollte.
Alle diese Porträts gelingen über große, sehr große schauspielerische Leistungen: Loren Lang als Veit Pogner, Patrick Zielke als eifriger Organisator Fritz Kothner, Andreas Engelhard als Beckmesser, Hyoyong Kim als David; großartig die Psychostudie von Erika Roos als Eva und die unpersönliche Tapsigkeit von Chris Lysack als Walter von Stolzing, Ulrike Mayer als mütterliche Magdalena. Das alles unterstützt die unvergessliche Meisterleistung dieses Abends: Claudio Otelli als Sachs. Mit seiner These, dass Sachs das spießbürgerliche Kontrollsystem in Nürnberg letztendlich erhält, würde von Peter allein dem Sachs nicht gerecht. Der zudem makellos singende Otelli zeigt die Tragödie eines zusammenbrechenden Mannes: im Wahn-Monolog sitzt er zusammengekrümmt da, einen verrutschten Blumenkranz auf dem Kopf und zitternd umklammert er Evas Buch und die Ritterpuppe. Sein berüchtigter Schlussmonolog, an dem sich noch jeder große Regisseur die Zähne ausgebissen hat, richtet sich an niemand mehr, alle sind weggelaufen, nachdem nicht Stolzing, wie in der Partitur, sondern Eva singt: „Will ohne Meister glücklich sein“.
Dass Markus Poschner und die Bremer Philharmoniker sich auf dieses Konzept eingelassen haben, ist aller Bewunderung wert. Es tut auch Wagner gut, denn die poetische Idee läuft in der Musik ab und da ist es nur folgerichtig, dass man auch die Musiker sieht und nicht nur eine Untermalung aus dem Graben kommt. Unvorstellbar allerdings die fabelhaft bewältigten Probleme, dass der Dirigent die Sänger nicht sieht und die ihn nicht. Die Musik gelang ebenso überschäumend vor Kraft – ohne das „Fett“, vor dem Ernst Bloch warnte – wie zart und transparent in allen Stimmen, überreich an verzaubernder Kontrapunktik und Klangfarben. Zusammen mit dem ebenso differenziert singenden Chor – es scheint, als sei hier jede einzelne Person mit einem besonderen Akzent inszeniert – provozierte die Prügelfuge am Ende des zweiten Aktes Szenenapplaus: Kissen flogen auch im Publikum herum.
Nichts weniger als ein großer Abend, der ein völlig neues Fenster für die komplexe Rezeptionsgeschichte des Werkes, mit dem Adolf Hitler seinen Endsieg feiern wollte, aufmacht. Und ein Abend, der einmal mehr zeigt, dass Benedikt von Peters Arbeiten nichts, aber auch gar nichts mit selbstgefälligem Umkrempeln zu tun haben, sondern einen streng aus der Musik gegefundenen Fokus mit äußerster Akribie entfaltet.