Innerhalb des allein schon nach quantitativen Maßstäben kaum überschaubaren sinfonischen Repertoires bilden die Fragment gebliebenen Kompositionen eine kleine, jedoch vergleichsweise prominente Gruppe – angefangen bei Schuberts „Unvollendeter“ bis hin zu Bruckners „Neunter“ und Mahlers „Zehnter“. Es ist offenbar das sich in diesen Partituren widerspiegelnde „noch nicht“ wie auch ein „nicht mehr“, das gleichermaßen biographische wie kompositionsgeschichtliche Aspekte in sich aufnimmt und (im Zuge der Postmoderne) dem Torso eine eigenständige, über das eigentliche Werk hinausweisende ästhetische Aura verleiht.
Nicht vom Ende, sondern vom Anfang her ist hingegen die Fragment gebliebene 1. Sinfonie (1951) von Allan Pettersson (1911–1980) zu denken – es handelt sich dabei musikgeschichtlich um einen singulären Fall, bei dem ein Komponist seinen Erstling zwar zählte, ihn dann aber unfertig liegen ließ – auch wenn Pettersson wiederholt versuchte, das Werk zu vollenden (und es gibt Anzeichen, dass er das in späteren Jahren noch tat). Ohnehin präsentiert sich sein sinfonisches Schaffen in eigentümlicher Ordnung: Zu den gezählten 16 Sinfonien – darunter eine mit Chor (Nr. 12) und eine mit Solo-Saxophon (Nr. 16) – kommen noch lose Seiten aus dem Jahre 1980 (vielfach als Entwurf zu einer 17. Sinfonie bezeichnet), die Peter Ruzicka in einem eigenen Werk („… das Gesegnete, das Verfluchte“, 1992) klanglich realisierte.
Petterssons gewaltiges sinfonisches Œuvre bleibt damit auf beklemmende Weise fragmentarisch umrissen – so wie auch noch am Vorabend seines 100. Geburtstags viele Fragen hinsichtlich seiner äußeren wie inneren Biographie, seiner physischen und psychischen Lebensumstände, seiner ästhetischen An- und Einsichten einer an Quellen verifizierbaren Antwort harren. Geradezu sensationell wirkte daher die Ankündigung einer Uraufführung der fragmentarischen 1. Sinfonie, und dies zumal seit dem großen Pettersson-Zyklus in Nordrhein-Westfalen (1994/95) die Partitur von renommierten Stimmen für unspielbar gehalten wurde. Denn in der Tat sind mit dem vorliegenden Material mehr Rätsel als Lösungen verbunden: So weist ein erstes umfangreiches Konvolut zwar eine durchgehende Seitenzählung von 1 bis 136 auf, endet mit einem Doppelstrich und bietet eine vielfach durchkorrigierte frühe Lesart, die vielfach allerdings nicht die erste Niederschrift des Werkes darstellt; bei dem zweiten Konvolut geringeren Umfangs handelt es sich um den Versuch einer neuerlichen Ausschrift als Ergebnis eines teilweise einschneidenden Revisionsprozesses. Petterssons Ausarbeitung geriet indes bei beiden Niederschriften ins Stocken, so dass die Linien am Ende mehr und mehr auslaufen. Ein derartig als „work in progress“ überliefertes Material schließt aber die Herstellung einer konsistenten Werkfassung aus.
Dass Christian Lindberg, der seine Karriere zum „total musician“ als Posaunist begann, am 14. Januar im schwedischen Norrköping dennoch das Unmögliche möglich machte (als Initiator und Dirigent), beruht allerdings nicht auf magischen Fertigkeiten, sondern geht ganz einfach auf den Umstand zurück, dass alle skrupulösen Erwägungen zur Seite geschoben wurden.
Lindberg entschied sich schlichtweg für einen Verlauf und transkribierte das, was er vorfand – ohne Ergänzungen, aber mit Mut zur hörbaren Lücke. Diese Ehrlichkeit im Umgang mit dem etwa 30-minütigen Torso machte denn auch nachdenklich: Manches, besonders eine Steigerungsstrecke zu Beginn, erschien sonderbar ausgereift und von späteren kompositorischen Erfahrungen durchdrungen, Anderes fügte sich stilistisch nahtlos in den Umkreis der Konzerte für Streichorchester aus den 1950er-Jahren ein, Weniges provozierte ohne weiteren satztechnischen Kontext Ratlosigkeit (wie etwa die Schlusspassage, in der nur die Hauptstimme eines offenbar intendierten dichten kontrapunktischen Netzes notiert ist). Verständlich wurde jedenfalls, warum Pettersson nach seinem Paris-Aufenthalt bei René Leibowitz und seiner (vollendeten) 2. Sinfonie (1952/53) nicht mehr den Weg zurück fand.