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Thomas Moore, trombone, megaphone, production Katrien Gaelens, megaphone Pieter Matthynssens, cello, artistic director Marieke Berendsen, scenography, violin, megaphone. Foto: Stefan Pieper
Thomas Moore, trombone, megaphone, production Katrien Gaelens, megaphone Pieter Matthynssens, cello, artistic director Marieke Berendsen, scenography, violin, megaphone. Foto: Stefan Pieper
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Das Unsichtbare spricht zu uns: NOW-Festival in Essen bot Grenzerfahrungen

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„Grenzüberschreitung“ hatten die Macher von Essener Philharmonie und Folkwang-Musikhochschule als aktuelles Festival-Motto gewählt. Dieser inflationär überstrapazierte Begriff mutete fast wie Tiefstapelei an - den das zweiwöchige Essener Festival rund um die musikalische Gegenwart inklusive etlicher benachbarter Disziplinen eigentlich gar nicht nötig hat.

Es gehe doch hier um die „Freiräume jenseits des drängenden und bedrängenden Musikbetriebs“ – mit diesen Worten hatte Nike Wagner bei ihrer Laudatio zur Verleihung des Mauricio-Kagel-Preises eine Lanze für die freie Kultur gebrochen. (Die Urenkelin des großen Opernschöpfers ist seit jeher für die Neue Musik auch kulturpolitisch engagiert.) Der diesjährige Mauricio-Kagel-Preis der Kunststiftung NRW wurde aktuell dem Dänen Simon Steen-Andersen verliehen, macht der doch nach Meinung der Juroren vieles richtig, wenn es um künstlerische Gegenwart geht. Der Däne, der vor Jahren in Donaueschingen mit einer spektakulären „Flügel-Zertrümmerung“ von sich reden machte und auch sonst die happening-artigen Inszenierungen im Sinne Mauricio Kagels aus dem Geist von heute neu interpretiert, zeigte sich beim Preisverleihungskonzert von einer deutlich weniger brachialen Seite. Feinsinnig jonglierte der Cellist des Nadar-Ensembles mit Wahrnehmungsebenen, wenn er mit seinem verkehrt herum gehaltenen Instrument eine verspielte Choreografie pflegte – und sich selbst dabei noch filmen ließ und dafür gleich die „menschliche“ Projektionsfläche lieferte. Die weiteren Andersen-Stücke für Gesamtensemble verpflanzten solche Anordnungen in den Rahmen einer sozialen Interaktion, etwa in einer skurrilen Megafon-Performance.

Versunkene Gärten in 3 D

Auch auf der Opernbühne bestehen in Essen keine Grenzen zwischen visuellen, musikalischen, szenischen und virtuellen Welten. Michael van der Aas dreidimensionale Musiktheater-Produktion „Sunken Garden“ verbindet Bühnengeschehen mit kompromissloser Videokunst. Sängerinnen und Sänger kommen in 3D-Projektion ihrem Publikum derart nah, so dass sich – wie im modernen Alltagsleben – faktische Realität und imaginäre Welten vermischen. „Sunken Garden“ setzt hier vor allem dramaturgisch-technische Maßstäbe für ein Musiktheater der Zukunft. Um Tod, Sterben, Schicksale und Vergebung geht es in dieser etwas verworrenen Handlung. Am Ende steht ein mystisch verklärtes „Paradies“. Eben jener versunkene Garten, der Erlösung und Vergebung verspricht. Das „Wie“ einer suggestiv emotionalen Umsetzung ist hier eindeutig dem „was“ der zugrundeliegenden Story überlegen. Vor allem: Die Musik selbst blieb trotz aller multimedialen Bombastik die stärkste Kraft. Die Partitur erzeugt einen atemberaubenden Sog mit ihrer Mischung aus zwölftönigen Strukturen und cineastischem Pathos – in dieser Musiksprache fühlten sich die  Solisten auch in bestem Sinne wohl!

In deutlich komprimierteren Formaten hatte man sich an der Folkwang-Hochschule einer unverkrampften Durchdringung der visuellen mit der akustischen Sphäre verschrieben – und dabei in einem multimedialen Konzert auch mal die Historie beleuchtet: Wie sehr Film und Musik miteinander verknüpft sind, zeigen nicht nur Großtaten wie die Abschluss-Sequenz in Michelangelo Antonionis „Zabrieskie Point“  oder der große halluzinatorische Showdown in Stanley Kubricks Jahrhundertwerk „2001“. Neu lernen konnte man hier, dass schon in den 1920er Jahren viele hochinnovative Künstler mit archaischen Mitteln am Genre des musikalischen Experimentalfilms arbeiteten. Was herauskommt, wenn Künstler von heute die technischen Potenziale auch wirklich als kreative Werkzeuge nutzen, demonstrierten in Essen zeitgenössische „Videokomponisten“ wie Dietrich Hahne, die Preisträger des ICEM-Videowettbewerbs Marjan Markelj oder Roberto Zanata.

Musik in der Zeitmaschine

Grundlagenforschung in Sachen musikalischer Gegenwart findet nicht nur in der komponierten musikalischen Avantgarde statt. Auch setzen viele improvisierende Musiker ihre Ideen in Echtzeit um. Der britische Bassist Barry Guy agierte in Essen mit seiner großbesetzten „Blue Shroud Band“ wie in einer Zeitmaschine, die in fliegendem Wechsel die  Alte Musik eines Johann Sebastian Bach oder eines Franz Ignaz Biber auf die freie Improvisation aus dem Hier und Jetzt treffen ließ – was von den Ausführenden  im Essener Alfried-Krupp-Saal mit heißer Leidenschaft betrieben wurde!

„The Blue Shroud“ ist zudem ein politisches Stück für die Musikbühne, welches mit expressiven Mitteln Picassos Bild „Guernica“ interpretiert. Als die US-Amerikaner 2003 im Irak einmarschierten, wurde dieses Mahnmal gegen den Krieg mit einem Tuch (eben besagtem Blue Shroud verhängt). Es passte einfach nicht mehr in die Herrscher-Doktrin hinein. Ein gleichermaßen zynisch-ehrlicher wie barbarischer Akt, welcher Barry Guy zu diesem Projekt mit politischer Botschaft inspiriert hatte. (nmz-online berichtete ausführlich über die deutsche Erstaufführung im Jahr 2015.)

Geografisch-kulturelle Barrieren, ihre Hinterfragung und der Wunsch nach Überwindung, aber auch deren rigide Neuerrichtung sind brennende Themen unserer Zeit. Um zeitgenössisches Musikschaffen mit kultureller Globalisierung zu synchronisieren, wurden mehrere Gegenwarts-Komponisten hinaus in die Welt geschickt. So ging Jörg Widmann als musikalischer Kulturbotschafter nach Dubai, was der Film „into dubai“ der nmz-Media dokumentiert. Auch diesen gab es in Essen zu sehen. Widmann spielte mit dem „Ensemble Modern“ unter anderem sein Stück zu diesem Thema. Und dieses konterkariert so ganz jede naheliegende „touristische“ Vereinnahmung regionaler oder folkloristischer Musik-Kuriositäten. Marschrhythmen, karnevaleske Einlagen und andere „teutonische“ Anspielungen seitens des Interpreten kehren all dies genau ins Gegenteil und werden damit das Individuum wieder auf sich selbst zurück. Fazit: Jeder Mensch, also auch jeder Komponist trägt immer und überall sich selbst mit sich herum, im Zweifelsfall bis ans Ende der Welt.

Das Unsichtbare sprechen lassen

In die Welt hinausgehen und wie durch ein offenes Fenster die Klänge der globalen Kulturvielfalt einfangen, lohnt sich trotzdem. So sehr der Orient immer schon den Okzident kulturell bereicherte, so kommen aus dem arabisch-persichen-fernöstlichen Kulturraum auch heute hochspannende Impulse, um den Fortschritt der Musik weiter voran zu treiben. Dies belegten unter anderem drei Uraufführungen, die dem NOW-Festival ein berückendes Finale bescherten. Das Ensemble Musikfabrik wurde im Alfried-Krupp-Saal für dieses Anliegen durch deutsch-iranische Gastmusiker wie Siamak Jahaniry auf der Ney und Yasamin Sahossie an der Oud bereichert, um gemeinsam mit einer regelrecht zärtlichen Sensibilität neue Kompositionen von Ehsan Ebrahimi, Farzia Fallah und Bijan Tavili aus der Taufe zu heben.

Eine sehr sanfte, per se die Idee einer mystisch aufgeladenen tiefen Friedlichkeit verkörpernde Variante Islam ist der Sufismus. Aus dieser Quelle speist sich Liza Lims, im Jahr 2010 uraufgeführtes Stück „Tongues of the Invisible“. Eindringlich, mit intensiver, manchmal sich überschlagender Emphase durchlebte der Bariton Omar Ebrahim die ausgiebigen, rezitativischen Textpassagen, die einem Gedicht aus dem 13.Jahrhundert entlehnt sind. Virtuos improvisierende Soloinstrumente werden zu Dialogpartnern. Aber bald lädt sich der Ensembleklang immer expressiver auf – durchdringt Mark und Bein mit harschen Geräuschimpulsen, unruhigen Glissandi und einer kollektiven Atonalität. Die Welt ist hier wie sie ist. Im Aufruhr. 

In dieser Hinsicht leistet das NOW-Festival einen wichtigen Beitrag, zumindest künstlerisch eine grenzen-lose Vielfalt der Möglichkeiten erfahrbar zu machen.

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