Ob einmal beim Appell zum letzten großen Gericht auch die Modernen sich werden aufstellen müssen um abzuzählen: erste Moderne, zweite, dritte…? So ist es natürlich nicht und dennoch hat der Intendant der Salzburger Festspiele Peter Ruzicka den vom Kultursoziologen Heinrich Klotz eingeführten Begriff der Zweiten Moderne seiner Auswahl bei den Salzburg Passagen als Motto mitgegeben. Eine Dritte Moderne wird es wohl nicht geben und damit erübrigt sich auch im Grunde die Frage nach der Gestalt der Ersten, womit freilich die Positionen der so genannten Avantgarde nach 1950 gemeint sind. Die Zweite Moderne ist die Moderne danach, es ist die eines Trotzdem. Sie richtet sich gegen den Begriff der Postmoderne, auf deren Schlachtfeld in der Tat etliche kompositorische Talente geopfert wurden.
Allein schon deshalb ist die Postmoderne, von der heute schon kaum mehr jemand ernsthaft spricht, nicht marginal. Sie hatte ab den 70er-Jahren den Begriff des Fortschritts heftig angegriffen, hatte das Ende der künstlerischen beziehungsweise musikalischen Möglichkeiten proklamiert (mithin im Grunde das Ende der Kunst) und hatte als einzige Möglichkeit die Flucht nach hinten ausgegeben. Es war zudem eine falsche Flucht, denn die Verantwortung wurde unter der Parole „anything goes“ abgegeben. Das Verstecken hinter chamäleonhaft herbeizitierter Buntheit setzte jede musikalische Aussage gewissermaßen in Anführungszeichen, in die Flüchtigkeit des nicht wirklich so Gemeinten. Man wollte auf einem letzten großen Maskenball die Reste der Kunst zu Grabe tragen und den Deckel mit dem Aplomb einer über allem stehenden Ironie, eines großen Weltgelächters verschrauben. Letztlich fesselte sie hiermit jegliche künstlerische Tat, die noch Reste von Utopie, von neuer Sicht auf die Dinge für sich in Anspruch nahm.
Der Begriff Zweite Moderne ist also ein emphatischer, einer des Überlebens oder des Überstehens. Er soll freilich, so Ruzicka, nicht die Restauration der alten Postulate aus der heroischen Aufbruchszeit nach dem Zweiten Weltkrieg benennen, sondern eine Moderne, die die Postmoderne im Hegel’schen Sinne aufhebt: als Aufbewahrung und als Abschaffung. Auf musikalischem Gebiet ist dies freilich schon längst vollzogen, oft ohne dass sich der einzelne Künstler darüber theoretisch Rechenschaft ablegte. Der Satz von Marx „Sie wissen es nicht, aber sie tun es“, den Georg Lukács seiner Ästhetik voranstellte, hatte auch hier seine Wirksamkeit bewiesen. So bekundete denn auch die Auswahl der jungen und auch nicht mehr ganz jungen Komponisten, die Ruzicka in Bezug zur Zweiten Moderne stellte, fast durchwegs, dass dieser Begriff in ihrem schöpferischen Bewusstsein kaum eine Rolle spielte. Am prägnantesten formulierte es vielleicht Georg Friedrich Haas, der sein Wirken immer noch als Erste Moderne begreift, die für ihn im 13. Jahrhundert mit den ersten zweistimmigen Sätzen von Leoninus begann.
Hier manifestiert sich die Problematik solch einer begrifflichen, aufs Ästhetische zielenden programmatischen Einfassung. Sie wurde denn auch sinnlich in den Konzerten der Salzburg Passagen erfahrbar. Da waren alte Kompositionen wie die vierte Sinfonie von Charles Ives, das frühe und neu ausgegrabene, aus dem Jahr 1948 stammende Chor-Orchesterwerk „La nascita del verbo“ von Giacinto Scelsi und vielleicht auch noch Karlheinz Stockhausens „Punkte“ von 1962. Diese Arbeiten sollten wohl Positionen eines Moderne-Ansatzes, die gegen den Strom entwickelt wurden, in unterschiedlichen Facetten beleuchten. Doch eher wurden von ihnen die Fragezeichen vermehrt. Scelsis Chorkantate erwies sich als kühne Mischung aus Radikalität und Orientierungslosigkeit, die bizarr wie ein Wurzelwerk wirkte, das sich im reißenden Bach zwischen zwei Felsen verklemmte und den Voransturz des Wassers grotesk konterkariert. Und Stockhausens Frühwerk (das er freilich mehrfach überarbeitete), wirkte in erster Linie in Bezug auf sein Entstehungsdatum interessant. Für ein Kunstwerk aber ist es immer problematisch, wenn man zu seiner Wertung vornehmlich den frühen, also außergewöhnlichen Zeitpunkt seiner Konzeption benennt, ohne dass in ihm selbst das Widerständige dieser Tat aufbewahrt ist. Ives schließlich, fraglos faszinierend vom SWR-Orchester unter Lothar Zagrosek gespielt, wird in letzter Zeit wohl allzusehr zum Vorzeigeobjekt einer visionär vorzeigenden Tat vom Beginn des 20. Jahrhunderts degradiert.
Es war nicht die Postmoderne, die die nachhaltigste Kritik an der alten Avantgarde formulierte, es war das ihr vorausgegangene Unbehagen der damals jungen Komponisten. Hier wurden Argumente der theoretischen Überfrachtung ins Feld geführt, vor allem aber Züge von mangelnder Tiefenschärfe und klanglicher Egalität in den komplexen Strukturen festgemacht. Und es steht zu befürchten, das war in einigen Arbeiten in den Konzerten zu konstatieren, dass mit der emphatischen Manifestation der wiedererlangten Moderne auch diese Momente wieder aus den Unterständen hervortreten. Komplexes Komponieren ist nämlich auch ein fragwürdiger Schutzwall, hinter dem gefahrlos der Anschein des Frontkämpfers proklamiert werden kann, ohne dass das Rüstzeug dafür vorliegt (in der Postmoderne rutschten Ansätze mit wenig technischem und sensuellem Background schnell in die ridiküle Belanglosigkeit, das aber verhindert der moderne oder auch zweitmoderne Anspruch per Rezept). Das für Salzburger Verhältnisse ausgesprochen spärliche Publikum zeigte sich zu Recht hilf- und orientierungslos.
So geriet der demonstrative Aufbruch fadenscheinig – und Ruzicka versteht den Ort der Salzburger Festspiele durchaus nicht nur als Spielstätte, sondern als Wegweiser an prominenter Stelle. Mit Arbeiten des aus seiner Natur heraus komplexen, damit stimmig identischen Brian Ferneyhough (Jahrgang 1943) und von der fanatisch Aufrichtigkeit suchenden jüdischen Komponistin Chaya Czernowin (1957) wurden Eckpfeiler ins Programm gesetzt, sie wurden gewissermaßen als Wegweiser installiert – ein Auftrag, dem zumindest Czernowin nicht durchgängig Stand zu halten wusste.
Daneben standen jüngere Komponisten, bei denen immer wieder die Gefahr des Gefahrlosen, die die Moderne-Konzeption impliziert, wahrzunehmen war. Auszunehmen wären in erster Linie Mark André (1964) mit seinem neuen Stück „…zum staub sollst du zurückkehren“, dessen quälend suchender Weg nach stiller Wahrheit und Schönheit ohne jegliche schützende Umhausung nachdrücklich fortgesetzt wurde, und dann Enno Poppe (1969), dem es immer wieder gelingt, seine lapidaren Werkstitel wie „Öl“ oder „Salz“ mit einer ebenso dichten wie zwingenden Klangvision zu umfrieden und im konsequenten Spürgang packend auszutragen. Uraufgeführte Arbeiten wie „heftige landschaften mit 16 bäumen“ von Philipp Maintz, „Fehlstart“ von Sebastian Claren aber auch das Klavierkonzert „Prospero’s Epilogue“ des die Zweite Moderne beredt propagierenden Claus-Steffen Mahnkopf bewegten sich hingegen zumeist in Regionen der Proklamation, deren schlüssige Einlösung ausblieb. Das Gespenst eines modernistischen Mainstreams, der Moderne einklagt ohne sie letztlich nachdrücklich einzulösen, stand immer wieder über den Salzburg Passagen. Wohl ist Moderne etwas, das man nicht verordnen kann. Denn wird die Verordnung angenommen, bleibt man ohnehin hinter der Moderne, die längst anderswo wohnt, zurück.