Zu den großen Werken des Musiktheaters im 20. Jahrhundert, die unvollendet blieben, gehört „Lulu“. Alban Berg arbeitete an seiner zweiten Oper von 1928 an; er starb 1935 während der Skizzen zum dritten Akt. Der Torso wurde im Jahr nach Bergs Tod in Zürich uraufgeführt – im austrofaschistischen Wien war nicht daran zu denken. Friedrich Cerha komplettierte und instrumentierte den 3. Akt, der sich nicht nur geographisch aus Wien nach Paris und London bewegt, sondern bis zu einem gewissen Grad auch stilistisch neue Bahnen einschlägt (die 3aktige Fassung wurde 1979 im Pariser Palais Garnier aus der Taufe gehoben).
Die Textgrundlage der „Lulu“ bildet eine vom Komponisten selbst vorgenommene Zusammenfassung der Dramen „Erdgeist“ [1895] und „Büchse der Pandora“ [1902] von Frank Wedekind. In ihr halten sich die Fragen von Kunst und Leben die Waage mit den Schilderungen des erotisch aufgeladenen und hitzig sexualisierten Wiener fin-de-siècle-Milieus. Die Handlung rankt sich um die aus dem Zirkus-Milieu in die feineren Kreise aufsteigende „Kindfrau“, der die Männer reihenweise verfallen. „Lulu“ – das ist eine singuläre musikalisch-erotische Literatur- und Tonwelt. Lothar Zagrosek hat sie, mit wenigen Proben und der glücklichen Hand eines in Sachen Zweite Wiener Schule besonders erfahrenen Dirigenten, zum Fließen, Schweben, Abheben gebracht – und immer wieder auf den Punkt. Klar strukturiert und deutlich ausgeleuchtet erscheinen die Details, doch zugleich sind die verschiedenen Parameter und Fließgeschwindigkeiten in bester Balance.
Das göttlich-königliche Concertgebouw Orkest trumpft in den symphonischen Zwischenspielen nicht bieder auf, sondern versteht das Schwelgerische und exzessiv Expressionistische im Sinn der Gesamtarchitektur zu zügeln. Es spielt seine Befähigung zu besonders ‚transparent‘ anmutenden Interpretationen diskret aus. Im Unterschied zu der in letzter Zeit wieder allzu vollmundig zur „Weltspitze“ erklärten Hauptstadt-Kapelle in Berlin (freilich: wer misst da was nach welchem Maß?) können die Amsterdamer auch Oper ohne Fehl und Tadel mit höchlichster Begeisterungsfähigkeit. Sie haben also unter den Champions die Nasen vorn.
Die in die szenischen Skizzen von Lulus hohem Aufstieg und tiefem Fall eingeschachtelten Künstler-Tragikomödien sind nicht nur musikästhetisch von feinster Delikatesse auch dort, wo Bergs Musik schneidend scharf oder sinnlich-deftig wird – das Portrait des Komponisten Alwa Schön, seines feuilletonartistischen Vaters Dr. Schön (am Ende als Jack the Ripper unterwegs) und insbesondere des Malers Walter, den der machtbewusste Chefredaktor groß herausbringt (es ist, als hätte Wedekind das groteske Ende von Richard Gerstl, des Liebhabers von Frau Schönberg, vorausgeahnt).
Aus der Blickrichtung der Malerhand und dem Geist der raschen Tuschzeichnung hat der Schauspieler, Regisseur, Designer, Grafiker, Filmer und Ausstatter William Kentridge aus Johannesburg – ein Weltbürger und Grenzgänger – „Lulu“ bebildert. Zigfach hat er die Titelheldin portraitiert von Kopf bis Fuß, oft aus- und angezogen, ihr immer wieder ins Gesicht, auf die Finger und zwischen die Beine geschaut – und sich dabei von der Kamera zusehen lassen. Die mit breiten schwarzen Pinselstrichen rasch auf Pack- oder Zeitungspapier geworfenen Anspielungen, zu denen Portraits von Zeitgenossen der Entstehungszeit wie Berg, Schönberg, Weill oder Freud kommen, erfüllen die große Fläche über der leicht schrägen Ebene, von der aus gesungen wird. Teilweise erscheint die Schwarz-Weiß-Kunst leicht rötlich oder grünlich koloriert wie der Film der 20er Jahre – und immer wieder raffiniert animiert: auf- oder zuklappend und augenzwinkernd. Kentridge hat sich aus dem Varieté der 20er Jahre eine Pianistin erborgt, die ihren Flügel sich räkelnd von oben bespielt sowie a tergo, und aus dem Film einen grotesken Butler, der auch ungebetenen Gästen die Tür öffnet und dem letzten Freier der in England zur Straßennutte heruntergekommenen Lulu den Dolch reicht. Um es mit diesem Helden des Lustmordes zu sagen: „Das war ein Stück Arbeit“ – für Kentridge. Und der könnte einstimmen: „Ich bin doch ein verdammter Glückspilz“.
Lulu, das Reptil, szenisch-musikalisch so vielgestaltig wie die Namen, die die jeweiligen Männer ihr geben – Mignon, Nelly, Eva, Benediktine – wird von Kentridge’s Inszenierung zur gelangweilten Hausfrau heruntergemergelt. Das scheint zunächst auch die Stimme von Mojca Erdmann ein wenig zu hemmen. Aber dann durchmisst sie die höllenschwere Partie mit klarsauberen Höhen und feinen Nuancen im mittleren Register – bis zu den letzten Schreien aus der Kammer in der trostlosen Dachwohnung, die aus dem Off kommen. Umringt wird sie nicht nur von der gleichfalls vorzüglichen Jennifer Larmore als Gräfin Geschwitz, sondern einem Männerquintett mit Stimmen aller Fächer und Härtegrade: William Reuter als stimm-mächtiger Vater und Daniel Brenna als eiweißweicher Sohn Dr. Schön, William Burden als naiv-triebhafter Maler und ‚Neger‘, Julian Close als lebenserfahrener Theaterdirektor und Bankier. Schließlich Franz Grundheber als Schigolch aus der Tiefe der Erdgeister: Nach wie vor mit grandioser Stimme gesegnet versteht er die einem 78jährigen zugemuteten Mühen des Treppensteigens nachdrücklich zum Ereignise zu machen. Schigolch, der Lulu als Kind missbrauchte, ist der einzige Mann, der das Mordsweib überlebt. Er weiß, wann es Zeit ist, sich zu verkrümeln. Aber hier ist er wie selbstverständlich als asozial-soziale Figur zur Stelle – bei einer Aufführung, die sich auf allen Positionen die höchsten Prädikate erarbeitet hat. Ohne dass die Mühen hörbar und der Schweiß sichtbar würden.