„Treten Sie näher, aber immer mit Abstand“, sagt Chorleiter Andreas Felber mitten auf einer Wiese, umgeben von Bergspitzen und einem rauschenden Wildbach. Schon einige Höhenmeter hat die 60-köpfige Gruppe zurückgelegt. Beim Start der traditionellen Wanderung des Davos Festivals am Bahnhof Wiesen hatte noch das exzellente Schweizer Colores Trio vor einem Holzstapel zu Kaffee und Gipfeli groovende Rhythmen auf Marimba und Congas gespielt. Jetzt sind die Festivalbesucher selbst gefordert und stimmen gemeinsam mit den Profisängern des Festivalchores die indianische Volksweise „Evening rise“ an. Bei jeder dritten Wiederholung kommt eine Stimmgruppe dazu, ehe am Ende das Lied sechsstimmig erklingt. Nur ab und zu wird die Idylle durch ein lautes Klatschen gestört, wenn die umherschwirrenden Bremsen zu aufdringlich werden.
„Offenes Singen“ heißt das Format, das auch jeden Festivalmorgen im Kirchner Park zu erleben ist. Die Distanz zwischen Künstler und Publikum wird aufgelöst – Teilhabe als fester Programmpunkt. Eigentlich ist Andreas Felber Professor für Chorleitung an der Musikhochschule Hannover. Hier in Davos sorgt er mit dem 13-köpfigen Festival Kammerchor für echte Sternstunden wie beim sich in extremste Regionen der Stimme vorwagenden, 12-stimmigen „Le Cantique des cantiques“ von Jean-Yves Daniel-Lesur, das in der St. Johann-Kirche tief berührt. Der Spitzenchor ist aber auch Brückenbauer zu den vielen Musikliebhabern, die sich im Publikum finden.
Glamourfaktor gleich Null
Hier beim Festival in den Bündner Bergen ist der Glamourfaktor gleich Null. Man kommt nicht, um gesehen zu werden, sondern um zu hören, zu lauschen, Neues zu entdecken und die Sinne zu schärfen. Und um wie bei der Festivalwanderung auch selbst aktiv zu werden. Während vielerorts in Coronazeiten Singen wegen der Aerosolbildung als Gefahr gesehen wird und man das Publikum möglichst kontaktlos in Konzerte herein- und herausschleust, erlebt man in Davos Gesang als berührende und auch gemeinschaftsbildende Kraft und ein begeisterungsfähiges Publikum, das gemeinsam wandert und sich austauscht über das Erlebte.
Obwohl in der Schweiz in geschlossenen Räumen keine Maskenpflicht besteht, tragen viele der Zuhörerinnen und Zuhörer bei den Konzerten Atemschutzmasken, die am Eingang kostenlos verteilt werden. Hier wird große Kunst möglich, ohne Kompromisse machen zu müssen. Die Kreativität der Veranstalter in der Programm- und Raumgestaltung trifft auf die hohe Selbstverantwortung der Anwesenden. Regelmäßiges Fiebermessen unter den Künstlern ergänzt das Sicherheitskonzept.
Der neue Festivalintendant Marco Amherd, Jahrgang 1988, war schon im Frühjahr zuversichtlich, dass das Davos Festival coronakonform über die Bühne gehen kann. Hier treten keine internationalen Stars mit Standardwerken auf, sondern jedes Programm ist exklusiv und vor Ort produziert. Die Konzertorte sind Kirchen, flexibel zu bestuhlende Hotelsäle oder auch mal ein See, der beim Festivalbrunch zum Konzertsaal wird. Dass die rund neunzig jungen Musikerinnen und Musiker aus vierzehn Ländern, fast alle unter dreißig Jahre alt, wohlbehalten in die 1500 Meter hoch liegende Stadt gekommen sind, ist dem Organisationstalent von Geschäftsführerin Anne-Kathrin Topp zu verdanken.
Musikfestival der besonderen Orte
Für viele ist es der erste Auftritt seit dem Ausbruch der Coronapandemie. „Von Sinnen“ heißt in diesem Jahr das schön mehrdeutige Festivalmotto, das in den einzelnen Konzerten lustvoll durchdekliniert wird. In der Kirche Sankt Johann in Davos Platz wird Bernd Frankes expressive Komposition „On the Dignity of Man“ nach einer Rede des Renaissance-Philosophen Giovanni Pico della Mirandola vom jungen, hochsensiblen Sibja Saxophon Quartet und dem Davos Festival Kammerchor unter der Leitung von Andreas Felber ganz plastisch vor Ohren geführt. Ihre experimentelle Seite zeigen die vier Hochbegabten bei der Uraufführung von „from the noise“ ihres Baritonsaxofonisten Joan Jordi Oliver in der Kirche Davos Wiesen. Die live erzeugten Geräusche und Klänge werden digital bearbeitet und, in den Höhen ein wenig zu scharf, in den Kirchenraum geschickt. Das Simply Quartet lässt im Hotel Schweizerhof beim „Liebessinn“-Abend Robert Schumanns A-Dur Streichquartett op. 41 Nr. 3 auf höchstem Niveau schmachten, während Schauspieler Elias Reichert in Roberts Briefen an Clara den fordernden Gefühlen nachspürt: „Es muss werden. Vergessen Sie das Ja nicht.“
Das Davos Festival ist aber auch ein Musikfestival der besonderen Orte. Mit der Bergbahn geht es hoch auf 1861 Meter zum Hotel Schatzalp, das Thomas Mann einst in seinem Roman „Der Zauberberg“ als Vorbild für das Sanatorium diente. Vor der Jugendstilfassade spielt am frühen Abend ein erst beim Festival zusammengesetztes Bläserquintett bei diesem dreiteiligen Konzertabend „Übersinnlich“ mit „kulinarischen Intermezzi“ Samuel Barbers „Summer Music“ zu Quiche und Prosecco, ehe sich das Publikum ins feudale Innere begibt, um, gestärkt von Bündner Gerstensuppe, in Marin Marais „Le tableau de l’operation de la taille“ musikalisch einer Gallenblasen-Entfernung beizuwohnen. Intendant Marco Amherd liest die entscheidenden OP-Schritte vor (Cembalo: Matías Lanz). Beim Einsatz des Skalpells hört man den Schmerz in höchsten Tönen der Gambe (Alex Jellici). Allmählich geht die Sonne unter und es wird dunkler im Saal. Die Tischlampen verbreiten Wohnzimmeratmosphäre. Anton Spronk modelliert auf dem Cello „Al fresco“ von Composer in residence Gerald Resch. Und Amanda Taurina (Oboe), Marie Boichard (Fagott) und Frederic Bager (Klavier) beglücken mit einer flinken, vitalen Version von Francis Poulencs Trio. Das grandiose musikalische Finale wird regional abgerundet mit einem Röteli, dem feinen Bündner Kirschlikör, ehe die Schatzalpbahn zu später Stunde die Besucher musikalisch erfüllt und kulinarisch gesättigt wieder ins Tal bringt.
- Davos Festival, noch bis zum 15. August. www.davosfestival.ch
- Der Autor besuchte das Davos-Festival auf Einladung der Veranstalter im Rahmen einer Pressereise.