Neues Musiktheater kann alles sein: experimentell oder konventionell, mutig oder brav. In zwei Uraufführungen in Heidelberg und Baden-Baden und einer deutschen Erstaufführung an der Hamburger Staatsoper wird die gesamte Bandbreite abgedeckt – Scheitern inklusive. Wie wollen wir leben“ ist das diesjährige Motto des vierwöchigen Musikfestivals „Heidelberger Frühling“. Den Blick nach vorne gerichtet hat man hier vor allem im sogenannten LAB, das Vertreter verschiedener Künste vereint und mit neuen Konzert- und Musiktheaterformen experimentiert. Mit der Uraufführung von „Castor && Pollux“ präsentierte man nun in der gediegenen, holzgetäfelten alten Aula der Universität Heidelberg ein „Multimediales Musiktheater für Ensemble, Videokunst und 4DSOUND“, wie sich der rund 70-minütige Abend nennt.
Castor & Pollux
Ein Gitterboden wurde in der alten Aula eingezogen. Einige Damen müssen deshalb am Eingang ihre Absatzschuhe gegen Puschen tauschen, um nicht im begehbaren Soundsystem stecken zu bleiben. In der Saalmitte steht eine achtsäulige Lautsprecherkonstruktion. Mehrere Monitore und eine große Leinwand am Kopf des Saals, wo auch das Barockensemble The Rossetti Players unter der Leitung von Barbara Konrad postiert ist, komplettieren das Setting. Die acht Mitglieder des Vokalensembles haben sich unters Publikum gemischt, das zum Teil auf Holzbalken sitzt.
Der Abend ist dem ewigen Wunsch nach Unsterblichkeit auf der Spur und sucht den Brückenschlag zwischen dem antiken Mythos von „Castor und Pollux“ und künstlicher Intelligenz, zwischen den barocken Klängen aus Jean-Philippe Rameaus gleichnamiger Oper und der Live-Elektronik von Lukas Rehm, der auch die Videos für den Abend gedreht hat. Leider hält die im Vorfeld heftig beworbene Musiktheater-Produktion (Lisa Charlotte Friederich/Libretto, Regie; Jim Igor Kallenberg/Dramaturgie) nicht das, was sie verspricht. Sie verheddert sich in den vielen Bezügen, die sie zu spinnen versucht. Vor allem schafft sie zu wenig musiktheatralische Präsenz.
Schon der Beginn ist verschenkt, wenn Natalie Pérez die gesamte Geschichte von „Castor und Pollux“, dem menschlich-göttlichen Zwillingspaar, nüchtern erzählt. Rameaus Ouvertüre erklingt erst danach – zunächst federnd-majestätisch gespielt vom neunköpfigen Barockensemble, dann, digital bearbeitet, über die Lautsprecher geschickt. Die Maschine ersetzt den Mensch. Dazu flimmern Videos über die Monitore vom Bergmassiv „Castor und Pollux“ in den Walliser Alpen, später auch Statements von Wissenschaftlern oder rein digitale Landschaften. Die acht Sängerinnen und Sänger wandeln durch den Raum, stellen sich als Castor oder Pollux vor und erzählen vom Heidelberger „Human Brain Project“, für das in einem vierstöckigen Gebäude ein menschliches Gehirn als Riesencomputer nachgebaut wird.
Die gesungenen Arien, Duette und Chöre von Rameau können einzelne berührende Momente schaffen, hängen aber zusammenhanglos im Raum. Dazwischen prägt auch immer wieder die elektronische Musik von Lukas Rehm das Geschehen mit wabernden Klangflächen, vielfarbigem Rauschen und durchaus faszinierenden Soundkreationen in exzellenter Klangqualität. Ein zwingender Kontakt zwischen den verschiedenen Elementen des Abends entsteht aber nicht. „Castor && Pollux“ gleicht einer Collage – montiert aus Versatzstücken, die zu wenig miteinander zu tun haben.
Clara
Hat man in Heidelberg zumindest Mut, neue Weg zu gehen, so scheitert die Uraufführung von Victoria Bonds Kammeroper „Clara“ bei den Osterfestspielen Baden-Baden an ihrer Bravheit und Ideenlosigkeit. Die amerikanische Komponistin liefert mit ihrem hölzernen, oft neoromantischen Stil und der fehlenden künstlerischen Formung des Stoffes nur eine Art vertonte Biographie Clara Schumanns – von der Kindheit bis zum Tod ihres Mannes Robert. Eine enorme Textmenge wird auf die insgesamt sieben Solisten verteilt, allesamt Gesangsstudenten von baden-württembergischen Musikhochschulen. Die Musik hangelt sich fantasielos von Szene zu Szene, wenn sich die Komponistin nicht durch Werkzitate von Robert und Clara Schumann, Johannes Brahms und Franz Schubert mit fremden Federn schmückt. Pausen ersetzen die fehlenden Übergänge.
Das Klavier (Olga Wien) wird von Bond stark ins Zentrum gerückt, so dass das Kammerorchester, bestehend aus Akademisten der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Michael Hasel, häufig nur Klangfarben beisteuert. Eleni C. Konstantatou (Bühne und Kostüme) hat für „Clara“ ein Birkenwäldchen auf einer Insel gebaut. Eine runde Glaswand schafft gelegentlich Distanz und Spiegelung. Die jungen Solisten geben in der Inszenierung von Carmen C. Kruse ihr Bestes, um diese seltsam altbackene Kammeroper ein wenig mit Leben zu füllen. Der gestrenge Vater Friedrich Wieck (schön bieder: Pascal Zurek) doziert über Disziplin, während Fingerübungen im Klavier erklingen.
Hier unter den Birken startet Johannes Brahms (mit hellem Tenor: Patrik Hornak) seine Annäherungsversuche. Und hier tritt vor allem Robert Schumann (mit Charme: Johannes Fritsche) in ihr Leben, der sie gegen den Willen des Vaters heiratet. Ganz im Zentrum steht aber Clara, die von Theresa Immerz klare Konturen erhält. Mit ihrem glockenhellen Sopran zeigt Immerz Clara als zarte, aber auch starke Frau, die mit einem dramatischen Ausbruch Robert Schumanns Düsseldorfer Kritiker aus dem Haus jagt.
Lessons in Love and Violence
Der britische Komponist George Benjamin schaffte bereits mit seinem Erstling „Into the Little Hill“ (2006) einen Achtungserfolg. Seine 2012 für das Festival in Aix-en-Provence komponierte Oper „Written on Skin“ wurde bislang über hundert mal aufgeführt. Für seine neue Oper „Lessons in Love and Violence“, die nun nach der Londoner Uraufführung an der koproduzierenden Hamburger Staatsoper ihre deutsche Erstaufführung erlebte, hat der Messiaen-Schüler zum dritten Mal mit dem Dramatiker Martin Crimp zusammengearbeitet. Ausgehend vom Leben und Tod des homosexuellen Königs Edward II (1284–1327) erzählen die beiden eine zeitlose Geschichte über menschliche Abgründe und Machtmissbrauch.
Die Oper beginnt ohne Vorspiel. Das Col-Legno-Spiel der Streicher spiegelt die Erregung der Protagonisten. Der Konflikt zwischen König Edward II. und dem Rivalen Mortimer eskaliert zu den bedrohlichen Klängen aus dem Orchestergraben. Sein Liebhaber Gaveston heizt den Streit zusätzlich an. Die Königin Isabel sitzt zwischen den Stühlen. Die beiden Kinder (präsent: der lyrische Tenor Samuel Boden und die Schauspielerin Ocean Barrington-Cook) sind in allen sieben Szenen der Oper dabei. Sie sind meist stumme Zeugen des hochemotionalen, auch brutalen Geschehens, das die Regisseurin Katie Mitchell in einem Raum spielen lässt (Bühne und Kostüme: Vicki Mortimer).
Dazu schreibt George Benjamin eine klangfarbenreiche, immer wieder auch überladene Musik, die einen hochpathetischen Ton anschlägt und in den Gesangspartien ganz dem Melos vertraut. Besonders gelungen sind die raffinierten Orchesterzwischenspiele, die die bedrohliche Stimmung weitertragen. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg zeigt unter der Leitung von Kent Nagano eine große klangfarbliche und dynamische Palette. Immer wieder sorgen Schweller für dramatische Unruhe. Dennoch entwickelt die Oper keine Sogwirkung. Das liegt auch an der schwülstigen Sprache Martin Crimps, die oft verklausuliert ist und vor lauter Anspielungen das Wesentliche aus den Augen verliert. Es fehlt ein Erzählton, der auch mal das Dauerespressivo zurücknimmt. Evan Huges (King) und Gaveston (Gyu-la Orendt) sind ein wohltönendes baritonales Liebespaar.
Die Sopranistin Georgia Jarman (Isabel) betört mit ihren vollendeten Höhenflügen. Peter Hoare verleiht Mortimer mit seinem fokussierten Tenor Gewicht. Aber trotz der hohen gesanglichen Qualität des Hamburger Ensembles erhalten die Figuren kaum Profil. Am Ende wird Edward II. von Isabel und Mortimer vom Hof gejagt und sein Sohn als neuer König eingesetzt. Dieser hat aber seine Gewaltlektionen gelernt. Und beauftragt seine Schwester, zum letzten Akkord die Pistole auf den blutverschmierten Mortimer zu richten.