Dirigieren lernt man in der Praxis, vor dem Orchester, Probieren geht über Studieren, so fundamental und wichtig natürlich die alles umfassende Kenntnis der Partitur ist. Wer in der Musik, wie sie gedruckt ist, Bescheid weiß, aber nicht mit dem Orchester umzugehen, die Musiker nicht für die eigene Werkauffassung einzunehmen vermag und zwar von Beginn der ersten Probe an, hat schon verloren. Deshalb ist es für junge Dirigenten so wichtig, sich frühzeitig in der Konfrontation – besser: in der Arbeit mit dem Ensemble – zu erproben. Diese Chance bietet die Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin mit der jährlich durchgeführten Dirigenten-Werkstatt „Interaktion“ auf besondere Weise.
Die Idee für diesen ungewöhnlichen Meisterkurs lieferte Klaus Harnisch, der jetzt auch bereits zum vierten Mal für die organisatorische Umsetzung unter dem Dach der HfM sorgte, mit voller Unterstützung ihres Rektors, Christhard Gössling, und im Zusammenwirken mit Christian Ehwald als Dirigentischem Mentor. Das Konzept besagt: „Junge Dirigent/-inn/-en führen das ‚Kritische Orchester‘ – das ‚Kritische Orchester‘ führt junge Dirigent/-inn/-en… in der gemeinsamen Gestaltung des Ereignisses Musik“. In diesem Kritischen Orchester aber finden sich Musikerinnen und Musiker aus vielen klangvollen Ensembles, darunter alle großen Berliner Orchester und die Sächsische Staatskapelle Dresden, dazu erfahrene Hochschuldozenten zusammen, freiwillig und ehrenamtlich für mehrere oder alle fünf dreistündigen Proben, bei einem stilistisch breit gefächerten Repertoire, das dieses Mal von Mozart über Strawinsky, Debussy und Johann Strauß zu Bruckners Vierter führte und auch Solokonzerte von Tschaikowsky und Dvorák enthielt.
Da rotierten – eine einmalige, geradezu historische Konstellation – bei den ersten Violinen mit höchstens acht Spielern nicht weniger als sechs Erste Konzertmeister, unter ihnen ein aktiver und ein pensionierter der Berliner Philharmoniker, mit gleicher Verve auch am letzten Pult und, wie die meisten in diesem Ausnahmeorchester, immer in dem Bemühen, den Nachwuchskapellmeistern zu vermitteln, worauf es in deren Funktion vor allem ankommt. Deutliche, genaue Zeichengebung wird dabei selbstverständlich vorausgesetzt; wichtig ist jedoch vor allem, die musikalische Absicht auch im Detail zu suggerieren. Immer wieder wird, aus allen Orchestergruppen, eingefordert, mit rechter wie linker Hand – nur nicht ständig gleichlaufend, – aber auch durch Mimik, Körperhaltung und Blickkontakt die Zielrichtung, Struktur und Innenspannung des Klanggeschehens zu vermitteln. „Sie denken zu viel ans Dirigieren; denken Sie mehr an die Musik“, lautet die Aufforderung, oder „Sie müssen nicht ständig rauf- und runterschlagen, aber an einigen entscheidenden Stellen brauchen wir Impulse von Ihnen“, und aus der Cellogruppe rechts außen: „Nichts gegen Ihr Profil, aber Sie sollten sich auch einmal den tiefen Streichern zuwenden, wenn wir das Geschehen bestimmen.“
Aus 50 Bewerbungen hatte eine Jury anhand eingesandter Video-Aufnahmen zunächst acht Kandidaten ermittelt, die zum Auswahldirigieren – dieses Mal mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt/Oder – eingeladen wurden.
Die so ermittelten vier aktiven Teilnehmer der dreitägigen Werkstatt im Alter zwischen 27 und 33, darunter drei noch im Studium, vermochten sämtlich erkennbar von diesem Intensivkurs zu profitieren, zeigten allerdings auch noch bedenkliche Schwächen, etwa durch ständiges, Unruhe signalisierendes Vor- und Zurücktreten oder eine stereotype Wegwischbewegung des linken Arms, wo eigentlich Betonung und Intensität gemeint waren. Wer von ihnen sich auf dem Wege zu einer wirklichen Dirigentenkarriere befindet, steht dahin; als Ergänzung zum Studium und als Orientierungsmarke im Prozess der Qualifikation für diesen vielfältig anspruchsvollen künstlerischen Beruf ist eine solche Werkstatt von hohem Wert, nicht nur für die zur aktiven Teilnahme Auserwählten. Da verwunderte es, dass sich nicht sehr viel mehr Kapellmeister-Aspiranten unter den Beobachtern dieses öffentlichen Workshops fanden. Etwas Besseres dürfte es kaum geben.