„Wärme“ könnte eines der Schlüsselworte für das Festival zu Ehren György Kurtágs sein. Das und viel Zuneigung waren spürbar, mit der die Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin anlässlich des anstehenden 90. Geburtstags im Februar nächsten Jahres die Verbundenheit des ungarischen Komponisten mit ihrem Haus würdigten.
Rund 70 Mitwirkende boten dem Jubilar ihre Referenz – Nicolas Altstaedt (Cello), Martin Bruns (Bariton), Enikö Ginzery (Cimbalon), Anna Korondi (Sopran), die Widmungsträgerin Kurtag’scher Werke Tabea Zimmermann (Viola), das Vogler- und das Kuss Quartett, Nachwuchs-Kammermusikformationen, Ehemalige der „Hanns Eisler“ und Studierende, das Echo Ensemble unter Manuel Nawri, SchülerInnen des Musikgymnasiums Carl Philipp Emanuel Bach. Der Jüngste auf der Bühne mochte 14 Jahre alt sein; der Älteste, Eberhard Feltz, bereits ein halbes Jahrhundert an der „Hanns Eisler“ und eine Instanz in Sachen Kammermusik, insbesondere derjenigen Kurtágs, Mentor vieler Solisten und Streichquartette, ein Freund des Komponisten und, wie es von außen aussah, Seele des Festivals. Sein sehr persönlich gehaltener Vortrag war auch eine „Verbeugung“, so der Titel, vor Kurtágs Menschlichkeit und seinem Verständnis von Freundschaft.
Mit dem Basler Komponisten und Publizisten Roland Moser hatte man einen Kurtág-Kenner als Gesprächspartner eingeladen. Er und andere Kurtág Nahestehenden – auf kollegial-freundschaftlicher Ebene oder weil sie als junge Menschen über einen Meisterkurs in den „Kurtág-Sog“ geraten waren – steuerten Wortbeiträge, persönliche Zeilen, Erlebnisse, musikalische Anmerkungen etc. für eine über die Hochschule erhältliche, mit Fotos und Notenfaksimilies ausgestatteten Festschrift bei. Die erinnerten Begebenheiten lassen die musikalische Kraft des ungarischen Komponisten erahnen, und auch deren nachhaltige Wirkmächtigkeit.
Jonathan Aner zum Beispiel, heute Professor für Klavierkammermusik an der „Hanns Eisler“, Festival-Mitorganisator und im Trio mit Shirley Brill und Tabea Zimmermann im Eröffnungskonzert in „Hommage à R. Sch.“ op. 15d zu hören, erinnerte sich an seine erste – und sehr bizarre – Erfahrung von vor 20 Jahren, wo sein dem Cellopartner gegebenes „Stimm-A“ Kurtág als Gegenstand ausgiebigster interpretatorischer Erörterungen wert war, er aber sonst während des ganzen Meisterkurses keinen einzigen Ton zu spielen hatte. Und Heinz Holliger, nicht eben ein Kleinmeister des Metiers, fasst die Wirkung des Proben„junkies“ Kurtág fast resignierend zusammen: „Eigentlich nützen die Proben mit Kurtág nichts, aber komischerweise, man spielt im Konzert einfach besser.“
Bedingungslosigkeit
Bis ins Festival hinein transportierte sich die Bedingungslosigkeit, mit der Kurtág zu Werke geht, und zwar unter Einbeziehung seiner Person. „Vielleicht ist es nicht gewagt zu sagen, dass ich immer meine Autobiografie schreibe“, heißt es im Interview in der Festschrift, das die Geigerin und Komponistin Helena Winkelman mit ihm und seiner Frau Márta schon vor Jahren geführt hat. Bei Kurtág schließt Biografie stets das Thema Arbeitsprobleme ein. Es dürfte wohl nur wenige Komponisten geben, bei denen das Thema Schreibblockaden derart unverblümt öffentlich verhandelt werden (auch von ihm selbst). Dazu gehört nicht nur sein (mittlerweile zum Kanon der Kurtág-Biografie gehörend) künstlerischer Totaleinbruch Mitte der 50er Jahre mit anschließendem legendären Neuanfang mit Hilfe der Psychotherapeutin Marianne Stein, die ihm zu seinem Stil des „Mit möglichst wenig Tönen möglichst viel sagen und es so dicht als möglich sagen“ (Kurtág) verholfen hatte.
Auch Eberhard Feltz gab subtil in seinem Vortrag zu verstehen, dass die Tatsache von intern verwendeten Redewendungen fürs Vorankommen oder Nichtvorankommen für immer wieder auftretende Schreibblockaden und ihre Überwindung stehen, fürs permanente Scheitern und Anfangen, kurz: für kompositorisches Suchen als Dauerzustand.
Kompositorisches Suchen als Dauerzustand
Dies dann aus analytischer Sicht zu betrachten ist das Thema von Roland Moser in seinem Festschrift-Beitrag „Wege zu den Tönen hin – ein Versuch über György Kurtágs glückliche Hand“. Im Eröffnungsgespräch (zwischen ihm und Eberhard Feltz) konnte er unter anderem die Schritte Kurtágs nachzeichnen vom Scheitern an der Großform einer Sinfonie und der hierdurch verursachten grundsätzlichen Krise 1957/58, über die Zwischenidee eines Violinkonzertes bis schließlich das unendlich fragile, geradezu „verschwiegene“ Streichquartett op. 1 übrig blieb, mit dem Kurtág in sein neues künstlerisches Leben trat. Mit diesem Werk eröffnete auch das Festival; luzide, klangfarbenreich, konzentriert ausgeführt durch das Vogler-Quartett.
Beide Gesprächspartner betonten die Wichtigkeit einer Denkhaltung der Unmittelbarkeit für Kurtags Arbeit; es ging und geht um den einzelnen Ton und um die einzelne Verbindung. Moser umschrieb die völlige Aufmerksamkeit Kurtágs auf den gerade in „Arbeit“ befindlichen Klang mit der Metapher von „warmem Material“, kaltes könne er nicht komponieren. Das passt zum Stil der knappen musikalischen Aussage und des Fragmentarischen, andererseits verweist diese Metapher auf die Ausstrahlung, die Kurtágs Musik auf Zuhörer hat.
Auch auf der des Festivals, die in vier Programmen sechzehn der wichtigen Kammermusik- und Vokalwerke (op. 1, 2, 3, 6c, 13, 14d, 15b+d, 17, 24, 28, 35, 44) Kurtágs sowie Teile aus seinen offenen Instrumentalzyklen „Játékok“ und „Signs, Games and Messages“ hörten.
Das war viel, großteils sehr kleinteilige Musik. Dass hieraus sozusagen eine große Performance ohne „Anlaufschwierigkeiten“ entstand, war auch zwei Einspielungen zu verdanken. Von György und Márta Kurtág ein musikalischer Videogruß mit vier Chorälen von Johann Sebastian Bach zu vier Händen schaffte ad hoc eine freundliche Schärfung der Aufmerksamkeit im Auditorium. Ein zweites Video mit dem Konzert von György und Márta Kurtág 1996 in Jerusalem, das jeweils eine Stunde vor Konzertbeginn im Saal nebenan abgespielt wurde, frischte diese Atmosphäre immer wieder auf. Das bekannte Szenario, wenn vom Duo György und Márta Kurtág, der gerade nicht Beschäftigte neben Flügel oder Klavier stehend dem Partner mit einem Interesse über die Schulter sieht, als höre er oder sie die Darbietung das erste Mal, waren Referenzen an die „Gleichberechtigung“ (hier passt der Slogan mal) und eine Würdigung von Márta Kurtágs Anteil am Schaffen ihres Mannes.
Die Programmplaner waren gut beraten, dass sie in ihrem Würdigungsfestival Kurtág pur brachten und keine gemischten Konzertfolgen. Ohne abmildernden Vergleich mit anderen Klangwelten, war man seiner Musik zusammengenommen sieben Stunden lang unverfälscht ausgesetzt. Und deshalb war fast körperlich erfahrbar, was diese Musik ist, nämlich, wie Hartmut Lück schreibt „zerbrechlich, schutzlos, wie unbeholfen tastend durchs Weglose, schwankend zum Rand des Verstummens hin – aber dabei glühend von emotionaler Intensität.“