„Es gibt eine Barriere zwischen uns und dem Rest der Welt“, sagt Yvan Cuche, Mitglied des Leitungskomitees des Festivals „Les Amplitudes“, „schon die Leute aus Neuchâtel, eine halbe Stunde entfernt, kommen kaum zu uns herauf“. Die Bahnreise hat tatsächlich etwas von einer Exkursion ins Niemandsland. Durch Tunnels und einsame Juratäler geht es unablässig bergauf, bis man in 1.000 Metern Höhe, kurz vor der französischen Grenze, unerwartet in die Zivilisation zurückfindet: La Chaux-de-Fonds, eine Industriestadt mit knapp vierzigtausend Einwohnern.
Die Uhrenmetropole, die ihre Boomzeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert erlebte, ist stolz auf ihre kulturellen und politischen Traditionen, was sich schon im Stadtbild zeigt. Das Festivalbüro liegt am Platz der Internationalen Brigaden, in der Stadtmitte gibt es die Place de la Carmagnole, ein Denkmal für die Revolution von 1848 und einen Corbusier-Platz. Der weltbekannte Architekt ist hier geboren und hat seiner Vaterstadt auch zwei Bauwerke geschenkt, die heute sorgfältig gepflegt werden. Ein guter Humus für ein Festival mit zeitgenössischer Musik. Es wurde vor vier Jahren von einer Gruppe von Aktivisten um das hier ansässige Nouvel Ensemble Contemporain gegründet und vermag ein erstaunlich zahlreiches Publikum aus allen Alterklassen zu mobilisieren. Die relativ geringen öffentlichen Subventionen werden ergänzt durch Lotterie- und Sponsorengelder und viel Idealismus der Verantwortlichen. Eine wesentliche Stütze findet es in Radio Suisse Romande, das alle Konzerte aufzeichnet oder live übertragt. Der Sender schafft damit eine breite überregionale Öffentlichkeit, außerdem finanziert er die Uraufführungsaufträge. Ein Gastkonzert mit dem Orchestre de Chambre de Lausanne, einem Ensemble von hoher Klangkultur, sorgt darüber hinaus für einen glanzvollen Höhepunkt im Programm.
Das als Biennale konzipierte Festival stellt jedesmal einen international bekannten Komponisten ins Zentrum und gruppiert darum herum Uraufführungen schweizerischer Autoren. Der erste Composer-in–Residence war 2003 Luc Ferrari. Ihm folgten 2005 Georges Aperghis und in diesem Jahr nun Salvatore Sciarrino. Nicht weniger als neunzehn Werke und Werkzyklen erklangen von ihm, angefangen von den funkelnden „Notturni“ für Viola und den halsbrecherischen Violin-Capricci aus den siebziger Jahren über das musikalische Stillleben „Vanitas“ (1981) bis zum Massenevent der „Studi per l’intinazione del mare“ (2000) für über hundert Flötisten und Saxophonisten und Ensemblewerken neueren Datums wie dem „Quaderno di Strada“. Wenige Festivals bieten Gelegenheit, Sciarrinos facettenreiches Werk in einer solchen Breite kennenzulernen. Für erstklassige Aufführungen sorgte die internationale Solistenschar mit Sonia Turchetta und Otto Katzameier (Gesang), mit Lukas Fels, Carolin Widmann, der Bratschistin Anna Spina und dem Flötisten Mario Caroli. Das Schlusskonzert mit dem Orchestre de Chambre de Lausanne unter der Leitung von Marco Angius, einem ausgewiesenen Sciarrino-Kenner, stellte mit „Vento d’ombra“, „Clair de lune“ und dem geistreich-verspielten „Efebo con radio“ noch einmal den Klangmagier Sciarrino ins Zentrum. Die Stücke wurden kontrastiert durch Mozarts Klavierkonzert d-moll KV 466 und eine Uraufführung von Bettina Skrzypczak. In ihrem Orchesterstück „Initial“ entwirft die in der Schweiz lebenden Polin eine zerklüftete, farblich reich schattierte Klanglandschaft. Geheimnisvoll irisierende Streicherflächen, die Polarität zwischen schlagzeuggrundiertem Ausbruch und jähem Absturz in hohle Bassregionen sowie eine unruhige, durch Mikrointervalle geprägte Harmonik prägen den Charakter dieser ausdrucksstarken Musik. Solowerke von Victor Cordero, Alfred Zimmerlin, Daniel Glaus und Vincent Pellet sowie das Ensemblestück „Un retour de Cythère“ von Jean-Jacques Dünki ergänzten den Reigen der Schweizer Uraufführungen.
Eine einfallsreiche Programmdramaturgie, geistige Offenheit und ein entdeckungsfreudiges Publikum bilden das Kapital des Festivals „Les Amplitudes“, das, wie sein Name sagt, die Stadt hinter den Juraketten weit zur Welt hin öffnet. Die Peripherie als Schaufenster der Gegenwart: Vielleicht sind gerade das die Kulturlandschaften mit Zukunft.