Essen, Sheraton, im September. – Haben Sie Verständnis, es dauert noch etwas! Haben wir. Eine Woche vor der Premiere von „Gisela“, Hans Werner Henzes neuester Oper, seinem insgesamt fünfzehnten Musiktheaterwerk nach „L’Upupa“ und „Phaedra“ ist der Besprechungsbedarf groß. Schließlich, nach einer halben Stunde, ist es soweit. Dann merken wir, dass tatsächlich alles langsamer geht bei diesem 84-jährigen Komponisten.
Das Sprechen vor allem. Unvermeidlich die langen Pausen zwischen den Sätzen, den Satzteilen. Was er selbst am besten weiß und es zu seinem Leidwesen doch nicht ändern kann. „Ich spreche so schlecht!“, klagt er. Und man kann seine Enttäuschung, seine Resignation über seinen Zustand förmlich spüren. Einerseits. Andererseits ist da diese unendliche Geduld. Nichts wird abgebrochen. Nur manchmal schüttelt Hans Werner Henze den Kopf oder verstummt ganz, nur um bei Dingen, die ihm wirklich wichtig sind, wieder hellwach zu sein. – Ein Gespräch, ebenso „merk- und denkwürdig“ wie Leben und Werk dieses wohl letzten Großkomponisten.
neue musikzeitung: Die Kulturhauptstadt ehrt Sie mit einem Konzertjahr. Ein riesiges Füllhorn, ein Wasserfall von Henze-Musik, der sich da auf Land und Leute ergießt. Was empfinden Sie? Ist Stolz dabei?
Hans Werner Henze: Ja, ich bin sehr stolz, sehr zufrieden. Ich habe noch nicht viel gehört bis jetzt. Aber was ich gehört habe, hat mir den Eindruck verschafft, dass das Publikum der Kulturhauptstadt sich interessiert und sich freut – wie ich.
nmz: Im Untertitel heißt „Gisela“, Ihre neueste Oper, „die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks“. Haben Sie dabei eigentlich auch an Ihr eigenes Leben gedacht?
Henze: Ich habe an die vielen Menschen gedacht, die das Glück suchen und nicht finden. Obwohl: „Gisela“ ist eine heitere Oper. Nach allen Schwierigkeiten, denen sie begegnet – Irrwege, Irrtümer – kommen auch entschlossene, richtige Schritte. Immerhin hat man mir gesagt: Schreiben Sie einen „Pollicino“ für Erwachsene!
nmz: Ist das gelungen?
Henze: Sofort! Alles andere wäre nicht so einfach gewesen, da ich gerade eine „Phaedra“ geschrieben habe, wo eine schreckliche Frau Schreckliches erlebt. Und hier konnte ich mit Hilfe von Mister Kerstan (Michael Kerstan, Henzes Assistent und Koautor) eine Geschichte, ein Libretto erfinden mit einem klaren Konflikt zwischen Nordeuropa und dem mediterranen Europa und mit den Missverständnissen und den Schwierigkeiten, die daraus entstehen. Gisela geht nach Italien und findet einen bezaubernden Boyfriend und um den kämpft sie dann bis zum Ende der Oper, wo sie ihn kriegt.
nmz: Also eine Oper mit Happy End?
Henze: Ja, sehr. Glücklicherweise!
nmz: Aber im Finale ist es Gennario, der Gisela fragt: Werden wir glücklich sein? Er hat so seine Ahnungen. Giselas Eltern haben ihm die Tür gewiesen, haben ihm „keinen Platz in der Herberge gegeben“. Sofort denkt man an Maria und Joseph.
Henze: Ich auch.
nmz: Also eine bewusste Konnotation?
Henze: Genau.
nmz: Dieses Auf-der-Flucht-sein – wie Maria und Joseph, wie Gisela, die sagt „Dann müssen wir wieder fliehen!“ – ist das eine Grundbefindlichkeit des Menschen? Spricht aus diesen Zeilen auch Hans Werner Henze?
Henze: Man muss dafür kämpfen. Es geht um die Möglichkeit, eine offene Tür zu finden.
nmz: Da stellt sich natürlich die Frage: Fliehen wohin? Bei Ihnen war es Italien. Glauben Sie eigentlich, dass es ein solches Stück konkreter Utopie, ein solches Zitronenblütenland heute noch gibt?
Henze: Ich weiß es nicht.
nmz: Und wenn nicht – bleibt dann nicht einzig die Flucht in die Träume, wie sie Gisela ja auch hat?
Henze: Gisela träumt drei Träume: einen freundlichen und liebenswürdigen, einen konfusen und bizarren und einen ganz schrecklichen.
nmz: Was bedeuten diese Träume?
Henze: Der Autor der Träume ist dort. (zeigt auf Michael Kerstan)
nmz: Ein Stichwort, das uns ins Jahr 1968 zurückführt. Anlässlich der Eröffnung der Kunsthalle Bielefeld haben Sie Ihr politisch-ästhetisches Bekenntnis formuliert, das zum Motto des „Henze-Projekts“ im Kulturhauptstadtjahr geworden ist: „Notwendig sind nicht neue Museen, Opernhäuser und Uraufführungen. Notwendig ist, die Verwirklichung der Träume in Angriff zu nehmen. Notwendig ist die große Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Notwendig ist die Veränderung des Menschen und das heißt: Notwendig ist die Schaffung des größten Kunstwerks der Menschheit: die Weltrevolution.“
Henze: Also, zu einem solchen Satz kann man nur weiterhin stehen. Er ist eine Zusammenfassung meiner Auffassungen von Leben und Arbeit, von gesellschaftlichen Verbindungen. Na ja, damals war ich noch sehr jung, als ich das geschrieben habe. Jetzt bin ich doppelt so alt.
nmz: Aber der Satz bleibt gültig?
Henze: Klar!
nmz: Warum eigentlich die Parallelisierung von großartigem Neapel hier und unscheinbarem Oberhausen dort?
Henze: Ich kenne Oberhausen persönlich gar nicht. Ich kenne nur das Wort. Freunde von mir kamen als junge Menschen von dort.
nmz: „Gisela“ ist eine Oper „für Jugendliche und mit Jugendlichen“. Den Orchesterpart übernimmt mit dem Studio musikFabrik ein im Zeitgenössischen ambitioniertes Jugendorches-ter. Das war Ihnen wichtig.
Henze: Das gehörte zur Aufgabe, was mich aber nicht gehindert hat, einen richtigen Orchesterpart zu schreiben, immer daran denkend, dass der kleine Bratschist Fritz Müller seine Schwierigkeiten haben wird mit seinem Solo.
nmz: Oder der Cellist mit seinem.
Henze: Was wissen Sie vom Cello-Solo?
nmz: Ich war bei einer Probe. Da ging’s noch nicht so richtig.
Henze: Ja, es ist schwer.
nmz: Sie haben anspruchsvoll geschrieben. Würden Sie sagen: So, wie man schreiben muss für angehende Profis?
Henze: So ist es. Es ist eine Art von Lehrstück.
nmz: So ein bisschen fühlt man sich ja bei „Gisela“ an Montepulciano erinnert, von der ganzen Entstehungsgeschichte her. Weht der Geist von Montepulciano auch über „Gisela“?
Henze: Damals gab es eine Reihe junger Musiklehrer, die als Gäs-te der Stadt aufgenommen wurden und Kindern Unterricht gaben im Instrumentalspiel, im Singen und auch im Komponieren. In mühevoller, aber angenehmer Kleinarbeit entstand eine neue Welt.
nmz: Apropos. Wie empfinden Sie in der Rückschau das seinerzeitige heftige Ringen um Avantgarde oder Nicht-Avantgarde?
Henze: Also, als diese Fragen aufgeworfen wurden, das war die Zeit, wo die Technologien als ein wichtiges, neues Element hereinkamen, was mich nichts anging, das mich nicht interessierte. Und ich wusste damals in den frühen 60-er Jahren schon, dass ich meinen eigenen Weg gehen muss und dass ich mich nicht aufgeben darf, wodurch das Leben manchmal recht schwierig wurde. Aber ich war ja in meinem Paradies angekommen.
nmz: Und Sie haben nachgedacht beispielsweise über die Möglichkeit „revolutionärer Lieder“?
Henze: Es gab damals so viele Fragen, die keine oder die falschen Antworten bekamen. Es ist eine Frage der Umstände und des Glücks, wenn ein paar Noten von ihnen wirklich in den Volksmund geraten – darum geht es eigentlich.
nmz: Gibt es welche in Ihrem Fall?
Henze (lacht): Bis jetzt wohl noch nicht.
nmz: Sie sprachen einmal davon, dass sie sich an die „Vorschriften der Päpste, an die Regeln der Mönche“ nicht halten wollen.
Henze: Jawoll, die gab es!
nmz: Wieder so ein Satz, an dem Sie nichts zurückzunehmen haben?
Henze: Nein.
nmz: Und da ist noch so ein wunder Punkt: Wenn wir uns anschauen, wie Sie und Ihr Kollege Helmut Lachenmann sich in den Haaren gelegen sind, wie sie körbeweise zerbrochenes Porzellan produziert haben und wie dieses zerdepperte Geschirr heute immer noch herumliegt, da fragt man sich: Warum greifen die Beteilig-ten das nicht auf und versuchen, es zusammenzukitten?
Henze: Vor einigen Wochen traf ich Lachenmann in London und wir umarmten uns und weinten ein bisschen, und er hat gesagt, er hätte meine Musik immer sehr schön gefunden. Und ich konnte nur antworten, dass ich keine ähnliche Antwort geben könne, da ich seine Sachen, also die von Lachenmann, gar nicht kenne. Nicht aus Arroganz, nicht aus Zeitmangel, sondern aus einem Bedürfnis, allein zu arbeiten.
nmz: Dann hat es so etwas wie Versöhnung gegeben, kann man das sagen?
Henze: Ja.
nmz: Was raten Sie jungen Komponisten, die heute anfangen?
Henze: Ich denke, das Allerwichtigste ist, dass man sich nicht einer Gruppe verschreibt. Was es gibt und geben soll, sind Ratschläge, aber keine Marschordnungen.
nmz: Gruppenbildungen vermeiden?
Henze: Ja. – Also ich verfolge diese einzelnen Wege nicht. Aber eins kann ich bei dieser Gelegenheit hier sagen: Ich kenne eine ganze Anzahl von jungen Komponisten und Komponistinnnen, die voll sind von Leben, von neuen Ideen, und ich wünsche ihnen, das es ihnen besser geht als mir damals.
nmz: In „Alle Tage“ spricht Ingeborg Bachmann vom „armseligen Stern der Hoffnung über dem Herzen, die Auszeichnung“, die wir haben.
Henze: Das ist schön.
nmz: Wie verstehen Sie diesen Satz?
Henze: Arbeite! Arbeite!
nmz: Woher kommt die Hoffnung?
Henze: Sie könnte aus den Quellen der eigenen Dummheit entstehen. Ich weiß es nicht. Nochmals: Wir müssen fleißig arbeiten.
nmz: Und wenn Sie dann Ihre Noten schreiben, hat dies immer etwas Kalligraphisches.
Henze: Ja, ich habe mich immer bemüht darum. Nur, jetzt bin ich ein alter Mann und die Hände zittern, weshalb ich nur noch schreibe, wenn ich Lust habe.
nmz: Woran arbeiten Sie gerade?
Henze: An den Reparaturen zu „Gisela“. Könnte ja sein, dass der Cellist meine Hilfe braucht.
Die Fragen stellten Georg Beck und Richard Lorber
Eine aktuelle Besprechung der erwähnten Henze-Oper „Gisela“ ist unter nmz Online zu lesen. Einen ausführlichen Rückblick auf das Henze-Projekt bei ruhr.2010 lesen Sie in der Dezember-Ausgabe der nmz.