An der Inschrift auf der Fassade, Wagners Meistersingern entlehnt – „Ehrt Eure deutschen Meister – Dann bannt Ihr gute Geister“ – wird es kaum gelegen haben, dass an diesem letzten Februar-Samstag tatsächlich ein voll besetztes Wiener Konzerthaus zu erleben war. Zweitausend ausverkaufte Plätze. Auf dem Programm kein Haydn, kein Mozart, vielmehr die Uraufführung des „Requiems“ von Friedrich Cerha - freilich auch ein Wiener Komponist.
Auch wenn der ORF, der das Ereignis live übertrug, nationalpatriotisch-einvernehmend einen alten Avantgardisten, der in den 50er-Jahren mit seinem Ensemble „die reihe“ noch in Wiener Gaststätten und Teppichgeschäften auftreten musste, zum „Doyen der heimischen Komponisten“ adelte – das Abonnement, das sich an diesem nasskalten Wiener Winterabend vollzählig im Konzerthaus versammelte, hätte ja durchaus auch zu Hause bleiben können. Tat es aber nicht.
Darin bestand zunächst der markanteste Unterschied zum hiesigen Konzertleben. Wo, so fragte man sich, würde sich zwischen Hamburg und München schon ein Abo-Publikum zu Lachenmann oder Henze drängen? – In Wien, so war zu registrieren, gehen die Uhren anders. In Wien geht man zu Cerha. Warum das so ist, bleibt ein noch zu lüftendes Geheimnis.
Cerha – auf besagten Unterschied angesprochen – verhielt sich argumentierend, abwägend. Ja, so der 78-Jährige, das sei wohl eine Frucht jener Anstrengung, als er 1978 zusammen mit seiner Frau noch einmal einen großen Vermittlungsversuch unternommen und die Konzertreihe „Wege in unsere Zeit“ programmiert habe. Der Avantgardist als Traditionalist? Soviel zumindest scheint klar, dass Tradition für Cerha mehr und anderes ist als Schlamperei.
Das um die Requiem-Uraufführung herumgebaute Cerha-Symposium, ausgerichtet von der „Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien“ unter Leitung des jungen Musikwissenschaftlers Lukas Haselböck, gab in dieser Hinsicht manchen Fingerzeig, verortete Cerha zielsicher im „Spannungsfeld von Unbotmäßigkeit und Althergebrachtem“ (Peter Cossè). Keine schlechte Formel für den Umstand, dass Cerha eben nicht nur Mitbegründer eines legendären Ensembles ist, nicht nur Opernkomponist, nicht nur ein Lulu-Vollender und mit seinem großen „Spiegel“-Projekt, unabhängig von Ligeti, nicht nur ein Klangflächen-Experimentator. Überzeugend berichtete das Symposium eben auch vom Komponisten des subversiv Wienerischen Tons (Harmut Krones zur „Keintate“) wie vom Praktiker und Herausgeber frühbarocker Musik (Markus Grassl).
Alles in allem entstand so das (noch keineswegs vollständig ausgeleuchtete) Bild eines Komponisten, der in sich (scheinbar) Disparates verbindet. Dass Cerha die bekannten musikgesellschaftlichen Warntafeln (entweder Alte oder Neue Musik, entweder Ensemble oder Orchester, einmal Darmstadt, immer Darmstadt und Ähnliches) so eigensinnig missachtet hat, vielmehr seinem Musenruf gefolgt ist und dafür auch einen inneren Sinn mobilisieren konnte mit Raum für Vieles und Verschiedenes, konstitutiert heute eine Musiker-Persönlichkeit, die in ihrer Wiener Mischung aus Bescheidenheit und Präzision schließlich auch die Herzen des (großen) Publikums zu gewinnen imstande ist wie jetzt ein ausverkauftes Wiener Konzerthaus anlässlich Cerhas „Requiem“ so sinnfällig demonstrierte.
Musikwissenschaftler Jürg Stenzl jedenfalls schien es ausserordentlich bemerkenswert, dass Cerha mit seinem Requiem, im Unterschied zu Brahms, Ligeti, Zimmermann „die Idee der Gattungsspezifik in einem geradezu emphatischen Sinne zu retten“ versucht habe. Tatsächlich blieben die acht Gedichte von Cerhas eigener Hand, die der Komponist zwischen die liturgischen Requiem-Teile eingeschoben und zwei Solisten anvertraut hatte, die einzige Auffälligkeit in einem ansonsten klassischen Aufbau mit großem Chor, großem Orchester und Solisten. Sopranistin Iris Vermillion, Bariton Wojtek Drabowicz, der Slowakisch-Philharmonische Chor sowie das Radio-Symphonieorchester Wien unter Bertrand de Billy besorgten die lichtvolle Uraufführung einer Musik über ein dunkel-vergrübeltes Textgebirge, das keinen Weg aus der Wiederkehr des Immer-Gleichen weist.
Noch nach einem halben Jahrhundert, so Cerha über die unmittelbare Kompositionsgeschichte, seien ihm seine traumatischen Kriegserlebnisse in seine „Tages- und Nachtträume heraufgeschwemmt“. Als „Schleusenöffner“ fungierten dabei zwei Kompositionsaufträge: Für das internationale „Requiem der Versöhnung“ 1994 in Stuttgart lieferte Cerha mit Introitus, Kyrie, und Libera me den Österreich-Beitrag und fügte diesem Fragment im Auftrag der Wiener Konzerthausgesellschaft jetzt die übrigen Teile des liturgischen Requiems hinzu.
Die im Komponisten Friedrich Cerha begegnende Mischung aus Humanismus und Existentialismus, Zeitgenossenschaft und Traditionsbindung, die immer wieder Wege in unsere Zeit sucht und insofern die großen musikalischen Gattungserrungenschaften verwandelnd festhalten muss, kulminierte jetzt in Gestalt eines opus summum, einer eineinhalbstündigen Totenmesse.
Wahrscheinlich, so mutmaßte der Komponist, habe er damit zum letzten Mal ein derart groß dimensioniertes Werk vorgelegt, das im Wiener Konzerthaus – darin freilich wäre dem ORF uneingeschränkt zuzustimmen – für „Beklemmung und Begeisterung“ sorgte.