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Beim Lucerne Festival setzte auch diesmal die „Contemporary“-Schiene besondere Akzente
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Das Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) ist die letzte große Vision vom Noch-Intendanten Michael Haefliger. Gemeinsam mit der Lucerne Festival Academy (LFA) verkörpert das Ensemble die „Contemporary“-Schiene. Unter den führenden Festivals der Musikwelt ist diese Initiative einzigartig. In diesem Jahr wirkte überdies Enno Poppe als „Composer-in-Residence“.

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Wenn man Enno Poppe fragt, was für ihn das Paradies sei und ob er da hin wolle, holt er weit aus. Er stelle sich das Paradies als ein Ort vor, an dem keine Kunst sei. „Bevor der Mensch zum Baum der Erkenntnis gelangt und in ihm der Wunsch nach Erkenntnis erwächst, wird die Kunst und das alles ja eigentlich nicht gebraucht. Deswegen stelle ich mir das Paradies vor dem Sündenfall als Ort ohne Kunst vor, und da möchte ich nicht wirklich hin.“ Für den 53-jährigen Berliner aus dem Sauerland heißt das aber keineswegs, dass er mit dem diesjährigen Motto „Paradies“ am Lucerne Festival fremdelte.

Dort in der Schweiz am Vierwaldstättersee wirkte Poppe in diesem Sommer als Residenz-Komponist, so wie vor zwei Jahren seine Partnerin Rebecca Saunders. „Mit Mottos ist es wie mit Werktiteln: Man braucht sie, das ist einfach so. Man kann sich Titel auch gut merken.“ Sie seien „Gedächtnisstütze“ oder könnten „Assoziationsräume“ eröffnen, so Poppe weiter, und damit meint er auch seine eigenen Werktitel. „Wichtig ist mir nur, dass die Titel nicht metaphysisch, sondern sehr konkret sind – auch stofflich. Für mich ist Musik selber sehr konkret. Die Klänge haben eine direkte, haptische, physische Präsenz.“

Ob vertikal aufstrebend oder sich horizontal ausbreitend: Bei Poppe ist der Prozess stets geradezu körperlich erfahrbar. Das gilt auch für die in Luzern präsentierten Werke. So hat Poppe in „Öl“ für Ensemble von 2001/04 erstmals mit langen Melodiebögen gearbeitet, um zugleich erstmals mikrotonale Harmonik zu erproben. Der Prozess als Expansion erfährt im vierteiligen, von 2008 bis 2013 entstandenen „Speicher“-Zyklus einen bisherigen Höhepunkt. Gleichzeitig ergründet Poppe mit jedem neuen Werk stets andere, überraschende Lösungen: in der Auswahl der Mittel, Techniken, Stile und der Besetzung.

Auch die Luzerner Werkschau zeugte von einer unerhörten Diversität. So arbeitet Poppe in „Rundfunk“ von 2018 mit neun Synthesizern, um in „Prozession“ von 2015/20 klassische Instrumente mit elektronischen zu konfrontieren. Die Realität als Reibungsfläche war auch im Liederzyklus „Augen“ von 2021/22 nach Else Lasker-Schüler mit der Sopranistin Sarah Maria Sun präsent. Hier verändern sich fortwährend Ausdruck, Timbre und Charakter der Stimme. Aus diesen Miniaturen ist die Luzerner Uraufführung erwachsen: „Blume“ ohne Stimme für Ensemble.

Zwei Konzerte blieben besonders lange im Gedächtnis haften: die vom LFCO im KKL realisierten Schweizer Erstaufführungen von Mathias Spahlingers „passage/paysage“ für großes Orchester von 1988/90 mit Poppe am Pult sowie von „Fett“ für Orchester von Poppe aus den Jahren 2018/19 unter Susanna Mälkki. Das Werk Spahlingers hatte sich Poppe ausdrücklich für seine Luzerner Residenz gewünscht. Es war zugleich der einzige Beitrag aus fremder Feder, den er in seiner eigenen Werkschau integriert hatte. Warum? Weil es für Poppe ein „Jahrhundertwerk“ ist.

„Wir hatten mit diesem Stück unseren ‚Sacre du printemps‘, das Stück, das die bisherigen Gesetze außer Kraft setzte und durch etwas ersetzte, was wir noch nicht verstehen konnten“, so Poppe im Programmheft. Das hatte damals auch einen zeithistorischen Kontext. Als der bald 49-jährige Spahlinger aus Frankfurt das Werk komponierte, befand sich die Welt im Wandel. Mit dem Fall der Mauer in Berlin endete zugleich die Teilung Europas zwischen Ost und West. Die Sowjetunion zerfiel, der Kalte Krieg erlosch.

Diese Zeit der Wende und der Brüche findet in „passage/paysage“ einen zwingenden Ausdruck. Mit der Komposition endet zugleich eine Trilogie, die laut Spahlinger die „Aufhebung, Zersetzung von Ordnung durch ihre eigene Gesetzmäßigkeit“ in den Fokus rückt. In rund 45 Minuten wird hörbar, wie sehr Spahlinger starre Konventionen und systemische Hierarchien zutiefst misstraut, indem er sie auflöst oder verschiebt. Ob markante Rhythmik, geräuschhafte Klangaktion oder großflächige Expression: Nichts bleibt, wie es scheint; alles fluid. Umso verstörender das Ende von „passage/paysage“. Für zehn Minuten zupfen die Streicher unaufhörlich ein Pizzicato in h-Moll.

Diese Tonart steht, vom Barock bis zu Alban Berg, für Tod, Dunkelheit und Auflösung. Offenbar misstraute Spahlinger der damaligen Aufbruchsstimmung der frühen 1990er Jahre. Der neuerliche Ost-West-Konflikt und ein Angriffskrieg, der die Friedensordnung in Europa erschüttert, lassen Spahlingers „passage/paysage“ heute geradezu prophetisch erscheinen. Ähnliches lässt sich auch über Poppes „Fett“ äußern. Die beispielhafte Ausgestaltung von „passage/paysage“ durch das LFCO mit Poppe am Pult machte zugleich deutlich, warum sich Poppe dieses Werk von Spahlinger im Rahmen seiner Luzerner Residenz ausdrücklich gewünscht hatte: weil es viel über Poppe selber verrät.

So wird auch in Poppes „Fett“ in jedem Moment hörbar, wie Ordnung und Orientierung zusehends infrage gestellt werden. Einzelne Akkordfolgen werden in den Raum gestellt oder Tonhöhen linear allmählich verändert, die Mikrotonalität unterhöhlt die wohltemperierte Ordnung der Tonalität. Im Mai 2019 hatte Mälkki in Helsinki bereits die Uraufführung von „Fett“ dirigiert. Die dortigen Philharmoniker wirkten damals etwas überfordert mit der vielschichtigen Mikrotonalität, ganz anders jetzt in Luzern das LFCO.

Eine unerhört dramatische und zugleich klangsinnliche Durchdringung wurde da erreicht, die spannende Assoziationsräume eröffnete. Zehn Monate nach der Uraufführung von „Fett“ begann eine Pandemie, die mit ihren Auflagen und Maßnahmen zur Eindämmung die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung auf eine harte Probe stellte. Im Nachhinein wirkt Poppes „Fett“ wie der prophetische „Soundtrack“ zu einer Zeit in der Schwebe. Dieser Schwebezustand ist, auch gesellschaftlich und sozialpsychologisch, längst noch nicht überwunden.

Im Jahr 2003 von Pierre Boulez begründet und nach dessen Tod von Wolfgang Rihm übernommen, werden durch die Luzerner Akademie junge Musiktalente in die Interpretation der Moderne und des Neuen unterwiesen und Komponierende betreut. Seit 2021 mischt hierfür das LFCO mit: Nachwuchstalente bis 32 Jahre. In dieser kurzen Zeit hat sich das LFCO an die internationale Spitze der Spezial-Ensembles für das Neue und die Moderne musiziert. Es bleibt die Hoffnung, dass Sebastian Nordmann ab 2026 als neuer Lucerne-Intendant dieses Luzerner Alleinstellungsmerkmal als solches erkennt. Auf einer ersten Pressekonferenz mit ihm im Mai 2023 hatte er nichts Substanzielles zu Moderne und das Neue gesagt. Ein schlechtes Omen?        

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