Nicht ein Thema bildete den Fokus der diesjährigen Ausgabe des Berliner Festivals Ultraschall, sondern eben kein Thema, also Freiheit plus – oder anders gesagt: das Übliche.
Stellvertretend – denn das Bedürfnis, sich an ein begriffliches Zentrum zu klammern, scheint unüberwindbar – setzte sich das Stichwort „Heterogenität“ durch, ein verlässlicher Sympathieträger, denn wer wünscht sich über fünf Tage hinweg ein homogenes Programm? Ob es heute überhaupt gelingen würde, ein homogenes Programm zu gestalten, steht dahin, denn wenn es zu einem Großteil aus Werken jüngerer Komponisten bestehen soll, untersteht man geradezu einem Heterogenitätszwang. Und so waren die aktuellen Versatzstücke alle vertreten: das Genre-Crossing, die Performativität, die transkribierten Alltagsklänge, die Anleihen an die klassische Traditionsmusik, der Epochenmix – und dies wiederum im Wechsel mit Konzerten herkömmlichen Formats mit Symphonieorchester-, Quartett-, Trio- und vor allem Soloprogrammen von Künstlern wie dem Pianisten Christoph Grund, der Geigerin Barbara Lüneburg oder dem Schlagzeuger Matthias Engler. Hierbei lag der Schwerpunkt mehrheitlich auf der Neuen Musik „mittleren Alters“ in Gegenüberstellung mit jüngeren Werken.
Dieses Ausgleichsprinzip mag auf Anhieb diffus wirken, aber es entfaltet seine Vorzüge: Sicher sind Werke von Friedrich Cerha wie „Drei Stücke für Violoncello und Klavier“ oder „Fünf Sätze für Klaviertrio“ nicht brandaktuelle Musik. Hat man allerdings die Chance, eine so vielschichtige Interpretation des Boulanger Trio zu hören, die lakonische wie romantische Eigenschaften dieser Musik perfekt vereinbart, stellt sich diese Frage nicht mehr. Auch für das anschließende Konzert des Minguet Quartetts hat sich der Ausflug zum entlegenen Funkhaus Nalepastraße bei zehn Grad minus gelohnt, denn hier ließen die Herren Rihm und Ruzicka Klischees von „Jungen Wilden“ und „altgedienten Bildungsbürgeridealen“ wieder einmal hinterfragen. Wolfgang Rihm reagiert in seinem hierzulande erstmals aufgeführten Streichquartett „Geste zu Vedova“ auf die raumgreifenden Gemälde des venezianischen Malers Emilio Vedova mit einer nicht abreißenden Serie brachial abrupter Hiebe, die gegen alles Organische rebellieren und einem periodisch aus dem Takt geschubsten Rockbeat gleichen. In Peter Ruzickas „Streichquartett Nr. 3 … über ein Verschwinden“ tauchen ähnlich gestische Sforzati auf, allerdings in einem Mittelteil, der in eine feine, zerbrechliche Musik gebettet ist, viel intimer und persönlicher als jene seiner Werke, die sich auf tragische Dichter und Denker des Abendlandes wie Friedrich Hölderlin oder Paul Celan beziehen. Wie ein immerwährendes Ausatmen klingt das Ende, wenn alle vier Instrumente nur noch auf dem Holzkorpus streichen. Für diesen subtil körperlichen Aspekt hat zuvor schon der junge Schweizer Roberto Rusconi die Sinne geöffnet mit seiner „Studie De Arte Respirandi“ – von der Kunst des Atmens – die den energetischen Aufbau und Abfall des Atemvorgangs musikalisch nachvollzieht. Sie bildet den esoterischen Gegenpol des Programms, gemeinsam mit Konstantia Gourzis rührend naiver Engelskomposition „Anájikon, the Angel in the Blue Garden“, einfältig und tonal vom Scheitel bis zur Sohle, inspiriert von einer Skulptur Alexander Polzins.
Am höchsten schlugen die Festivalwellen sicherlich am Freitagabend im Heimathafen Neukölln. Der erste Konzertteil stand im Zeichen des rätselhaften Humors von Francesco Filidei. In „Ballata Nr. 2 und 3“, gespielt vom Ensemble Mosaik unter der Leitung von Enno Poppe mit Ernst Surberg am Klavier, bemüht Filidei seinen vielgeliebten Tröten- und Rasselnfundus, der ihm vermutlich dabei helfen sollte, den Mühlstein der Tradition, den der italienische Komponist und Organist um den Hals trägt, abzuwerfen. Dieses Karnevalsinstrumentarium akzentuiert wohl die absichtlich krude Rhythmik und Gestik beider Stücke, die flatterhafte, obertonreiche Klangflächen ablösen. Aber die formalen Konventionen folgen auf dem Fuße: Zum Schluss von „Ballata Nr. 3“ schält sich eine Melodie als romantisches Moment aus dem Klamauk heraus und mündet in eine Art danse méchanique. Wer Klamauk in unverdünnter Form bevorzugt, war mit Filideis „L’Opera (forse)“ trefflich bedient – eine rezitierte Liebesgeschichte von einem Karpfen und einer Nachtigall, die von Ensemblemusikern ausagiert und mit einer lautmalerischen Geräuschkulisse versehen wird. Für Erwachsene nur bedingt geeignet.
Der zweite Teil des Abends lag in der Hand des Schlagzeugers Håkan Stene. In der Uraufführung von Matthew Shlomowitz’ „Popular Contexts Vol. 8 für Midi-Pads und verschiedene akustische Instrumente“ pendelt er zwischen einem Drumset und einem Vibraphon-Tamtam-Kalimba-Setup hin und her, wo er immer neue Kombinationen von Instrumenten und Alltagsgeräuschen wie Straßenlärm, Grillen, Sägen oder Hundebellen mischt, um schließlich bei Debussys „L’après-midi d’un faune“ in Muzak-Version mit stupidester Schlagzeugbegleitung zu landen. Da man von Parodien allein (in diesem Festivaljahrgang auffällig zahlreich vertreten) leider nicht satt wird, blieb hier zum Schluss das große Fragezeichen „warum nur?“ im Raum stehen. Viel eher dagegen war man gewillt, bei Trond Reinholdtsen das komplette Vorspiel zu Wagners „Meistersinger“ zu dulden in seiner musiktheaterhaften „Percussion Sonata Inferno“. Auf der Filmleinwand brät ein Gorilla dazu Eier für sein Affenbaby, nachdem er in seiner Höhle sitzend einmal kurz und knapp die Evolution kompositorischer Mittel bis hin zu erweiterten Spieltechniken und der Erfindung eines „ganz neuen Materials“ durchlaufen hat. Aber ein rühreikochender Gorilla vermag die hartgesottene Neue-Musik-Gemeinde kaum zu provozieren. Im Gegenteil. Ein Großteil des Publikums schien das absurde Sein und Streben des Affenvaters durchaus nachempfinden zu können – denn das muss man Trond Reinholdtsen ja lassen: Die Ratlosigkeit ob der Frage, wo die Reise hingehen soll, wenn ein musikalisches Fortschrittsdenken weder Sinn, noch weiterführende Ergebnisse produziert, betrifft heute tatsächlich viele Komponisten. Und diese Tatsache auf den primitivsten Nenner zu bringen, ist eine nicht zu untschätzende Kunst Reinholdtsens.
Die wahre Provokation des Festivals ist den Kuratoren Andreas Göbel (rbb) und Rainer Pöllmann (Deutschlandradio Kultur) aber mit dem ganz amerikanischen Eröffnungskonzert des Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter der Leitung von Kristjan Järvi gelungen. Werke von Gene Pritsker und Roberto Sierra, die als gewagte Genrefusionen mit Hip-Hop und Jazz angepriesen wurden, erwiesen sich als seicht gefälliger Kitsch mit Drumset beziehungsweise Jazz-Saxophon, dessen höchste Höhen und tiefste Tiefen der Saxophonist James Carter zur Schau stellen durfte. Und auch Aaron Jay Kernis’ „Musica Celestis“, die sich angeblich auf Hildegard von Bingen bezieht, erinnert eher an Massagesalon-Musik, die sich aus den Anfangsakkorden von Wagners Lohengrin-Vorspiel herausentwickeln darf. Mögen die tremolierenden, leicht abgewandelten Akkordfolgen noch so schillern und irisieren, sie bleiben in dieser Verarbeitung der Inbegriff reaktionärer Musik. Gewiss hat auch diese ein Existenzrecht, aber Ernüchterung bleibt einem dennoch nicht erspart, wenn man die tragende Rolle bedenkt, die einst die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten für die Entstehung, Entwicklung und Verbreitung zeitgenössischer Musik spielten. Das Gefühl, das ein Konzert am Ende in einem hinterlässt, ist oft schwer mit Worten zu beschreiben. Einen authentischeren Eindruck des Abends dürfte daher der denkwürdige Kommentar eines älteren Konzertbesuchers in der Warteschlange der Garderobe wiedergeben: „Da wünscht man sich doch den Sozialistischen Realismus zurück.“