Die Wittener Tage für neue Kammermusik sind neben, nicht nach den Donaueschinger Musiktagen das wichtigste Avantgarde-Treffen Deutschlands. Die Ausstrahlung reicht natürlich weit über die Landesgrenzen hinaus: Weltmusik heißt das Stichwort. Die Komponisten, die sich hier mit ihren neuesten Werken präsentieren, kommen aus vielen Ländern.
Das Angenehme an den Wittener Tagen ist einmal ihre Kürze: drei Tage, die andererseits aber so konzentriert mit Konzerten, Klanginstallationen, Performances und Gesprächen ausgefüllt sind, dass man das Gefühl hat, an einer umfassenden Informationsreise durch gegenwärtig aktuelle Klangwelten teilzunehmen.
Zur Charakteristik der Musiktage in Witten gehört in der Regel außerdem ihre thematische Konzentration. Der künstlerische Leiter der Musiktage, Harry Vogt, Musikredakteur beim Westdeutschen Rundfunk – der WDR fungiert neben der Stadt Witten als Veranstalter –, besitzt ein feines Gespür für sich abzeichnende Tendenzen in der aktuellen Musik. Im Augenblick konstatiert man ein wachsendes Interesse der Komponisten an allem, was im weitesten Sinne mit Sprache, Sprechen und der Stimme zu tun hat. Sprache ist ja nicht nur ausformulierte Information, sie entfaltet, indem sie gesprochen wird, ein facettenreiches Spektrum aus Klängen, Geräuschen, Tonlagen, aus Silben, Wörtern, Rhythmen, woraus sich dann autonome „Kompositionen“ herstellen lassen.
Wenn es um die Zusammenführung verschiedener Ausdrucksmittel, von Musik, Sprache, Körperhaftigkeit und Bildelementen geht, fällt quasi automatisch der Name des griechisch-französischen Komponisten Georges Aperghis. Aperghis stand mit Solo- und Duo-Stücken, einigen seiner brillanten „Récitations“ (fabelhaft von Salome Kammer vorgetragen) und einer Uraufführung im Mittelpunkt der Musiktage. „Zeugen“ nennt er sein Spectacle musical mit Texten von Robert Walser und nachgebauten Handpuppen, die Paul Klee in den zwanziger Jahren für seinen Sohn Felix fertigte. In einem kleinen Puppentheater verschiebt ein Spieler/Sprecher die steifen Puppen schematisch auf der Bühnenrampe, mittels einer Videokamera haucht er ihnen auf einer darüber montierten Bildwand „Leben“ ein, während eine „Stimme“ (wieder Salome Kammer) die Textfiguren Walsers, von denen Walter Benjamin sagte, dass sie „den Wahnsinn hinter sich“ hätten, in das Spiel suggestiver Erinnerungen einbringt. Aperghis' Musik, gesetzt für ein Quintett aus Altsaxophon, Bassklarinette, Akkordeon, Cimbalon und Klavier, korrespondiert in ihrem Anspielungsreichtum mit der lockeren szenisch-optischen Struktur. Eine wunderbare Poesie, hintergründig, rätselvoll, vieldeutig, liegt über dem Ganzen. Aperghis selbst führte sensibel Regie, Daniel Lévy zauberte mit Licht, Zsolt Nagy führte die Musiker präzise durch die Partitur.
Sprache, Klang – übersetzt und verwandelt: Walter Zimmermann gewinnt aus Aphorismen des argentinischen Dichters Antonio Porchia eine höchst individuelle Musik für seinen Klavier-Zyklus „Voces Abandonadas“. Faszinierend, wie der Komponist den Wendungen, Bedeutungen und Tonlagen der Sentenzen ganz unterschiedliche instrumentale Gesten und Gebärden gibt, wobei der Gesamtausdruck der Komposition gleichwohl sehr einheitlich wirkt. Nicht ganz so überzeugend erscheint daneben Peter Ablingers Zyklus „Voices and Piano“ (1998 bis 2007). Die in den Raum vom Tonband abgestrahlten realen Stimmen, unter anderen von Ezra Pound, Rolf Dieter Brinkmann, der Astronautin Valentina Tereschkowa, dem Komponisten Morton Feldman, der Schauspielerin Hanna Schygulla oder von Mao Tse-Tung werden von Ablinger mit korrespondierender Klaviermusik konfrontiert: Sprechweise, Akzente, Tonfall, Betonungen der Sprechvorlagen finden sich in Klanggestalten übersetzt. Das wirkt manchmal sogar recht witzig und intelligent, aber auf Dauer auch ein wenig zu schematisch.
Anspruchsvoller dagegen wiederum Isabel Mundry in ihrer komplexen Komposition „gesichtet, gesichelt“ auf einen Text von Thomas Kling. Eine Sprechstimme (Salome Kammer, unermüdlich in diesem Jahr) rezitiert Klings Worte, eine Trompete (souverän Marco Blaauw)„singt“ dazu, während drei aufgeteilte Chorgruppen zwischen den Ebenen vermitteln: ein hochambitioniertes Projekt, in Raum und Zeitverlauf Sprachinhalte und Sprachklang in eine autonome Komposition zu integrieren. Der WDR-Rundfunkchor unter Rupert Huber leistete Vorzügliches.
„ Stimmen“ können auch rein instrumental erklingen: Eine neue „Stimmfarbe“ bei den Interpreten brachte das „Ensemble 2 x 2“ ein. Zwei Pianisten (Heather O'Donnell, Benjamin Kobler) und zwei Schlagzeuger (László Hudacsek, Rie Watanabe) haben sich erst dieses Jahr zusammengetan. In Witten wirkten sie so souverän, als spielten sie schon ein Jahrzehnt gemeinsam. Für ihre Besetzung hatten Jérôme Combier, Paul Usher und Oliver Schneller neue Stücke komponiert, virtuos und farbig Combiers „Sables de vieux os“, brillant komponiert Schnellers „Resonant Space“. Vielbeschäftigt auch das Arditti String Quartet, das sich für Ivan Fedeles „Capt-Actions“ für Akkordeon, Streichquartett und Live-Elektronik sogar wie Weltraumpiloten verkabeln lassen musste. Auf jeden Fall ist Fedeles „Palimpsest“-Streichquartett (ohne Live-Elektronik) das substanzreichere Werk.
Das Schlusskonzert bestritt das Ensemble Modern unter Lucas Vis mit vier Uraufführungen von Márton Illés („Torso III.“), Sun-Young Pagh, Markus Hechtle („Vertigo – vor dem Fall“) und Bruno Mantovani. Mantovanis „Si près, si loin“ (So nah, so fern) für zwei Klaviere und zwei Ensemblegruppen bestach durch die kompositorische Perfektion, die „Vierzehn Szenen“ der jungen Koreanerin Sun-Young Pagh durch eine feine Klanglichkeit. Markus Hechtles „Vertigo – vor dem Fall“ versucht, apokalyptische Ängste und Visionen vom Ende unserer Welt in Klänge zu fassen – es entstand dabei eine sehr expressive Musik. Márton Illés‘ „Torso III.“ folgt, wie der Komponist sagt, dem „Prinzip der Energieschatten-Bildung“: äußerst konzentrierte Motiv-Anhäufungen sammeln gleichsam Energie, die dann auf andere Teile der Torso-Komposition abgestrahlt werden. Das klingt komplizierter als es ist, aber auf jeden Fall sprang daraus eine sehr dicht komponierte Musik heraus. Erfreulich bei diesem Konzert war es, das Ensemble Modern wieder einmal als Avantgarde-Formation zu erleben; man hatte ja schon manchmal den Eindruck, dass die häufige Beschäftigung mit Crossover, Frank Zappa oder Dreigroschenopern dem strengen Avantgarde-Stil, den das Wiener „Klangforum“ inzwischen fast perfekter beherrscht, abträglich wäre.
Zum Konzept der Wittener Programmgestaltung gehören neben den sechs größeren Konzerten auch diverse kleinformatige Veranstaltungen, in denen das jeweilige Thema intensivierend gespiegelt wird. Diesmal waren es drei Konzerte unter dem Titel „Stimme. Instrument“. Einige der hier gebotenen Stücke wurden schon erwähnt, unter anderem Aperghis’ „Récitations“ mit Salome Kammer. Nicht übersehen werden soll aber auch Alvin Luciers „Man Ray“-Komposition, eigens für die Kammer geschrieben. Ungewöhnlich der Anblick einer doppelten Salome Kammer: als Vokalartistin und als Cello-Spielerin (siehe Bild oben rechts). Lucier wurde durch bestimmte Strukturen auf Man Rays Photographie „Le Violon d‘Ingres“ aus dem Jahre 1924 zu seiner Komposition angeregt: zum auf und ab glissandierenden Cello singt Salome Kammer einen langgehaltenen Ton auf den Vokal „u“, der ein besonderes Spannungsverhältnis zu den Glissando-Partien des Cellos schafft. Im letzten Abschnitt des vierteiligen Werkes belebt sich die Struktur durch kürzer gehaltene Töne, die Sängerin summt hierbei einen Klang auf den Konsonanten „m“, also „mmm…“. Alvin Lucier ist inzwischen fünfundsiebzig Jahre alt, er war früher schon häufiger in Witten vertreten. Ein guter Gedanke deshalb, ihn mit dieser Komposition wieder einmal ins Wittener Programm einzubinden.
Gern begegnete man auch wieder Erwin Stache. Seine Klanginstallationen haben die Wittener Kammermusiktage schon öfter vorteilhaft animiert. Diesmal standen im Park vor dem Haus Witten auf mehreren kleinen Podien hohe, schlanke Metallstangen, die bei entsprechender Doppelberühung Töne, Klänge, sogar kleine Musiken abstrahlten, je nach Intensität der Berühung. Im Haus Witten hatte Stache drei Klanginstallationen aufgebaut: ein O-Tonbuffet, das beim Hochheben des Geschirrs entsprechende Klänge oder Geräusche erzeugt, ferner ein mechanisch angetriebenes Klangobjekt, das wie ein Transportband Gegenstände anschlagen lässt sowie, sehr hübsch, eine aufgeklappte Zither, auf deren Saiten eine hin-und herspringende Metallkugel Tonkombinationen erklingen lässt.
Was an Erwin Staches Klanginstallationen immer wieder gefällt, ist deren hohe Musikalität. Die Materialien funktionieren in ihrem Zusammenspiel nicht abstrakt, gleichsam als ein seelenloses Mobile, sondern erscheinen stets musikalisch eingebunden. Staches Klanginstallationen erscheinen weniger ingenieurhaft konstruiert, als vielmehr komponiert. Künstlerische Phantasie beflügelt alle seine technischen Erfindungen. Sie besitzen eine ganz eigene Poesie und Magie.