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Jorge E. López. Foto: Ch. Oswald
Jorge E. López. Foto: Ch. Oswald
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Der K2 der neueren Sinfonik heißt „Dome Peak“

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Das WDR Sinfonieorchester unter Emilio Pomarico spielt Werke von Jorge E. López in Essen
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Einem Komponisten, der ein 40-Minuten-Experimentalklangwerk „für 82 im Raum verteilte Instrumentalisten“ ankündigt, glaubt man einiges zutrauen und zubilligen zu dürfen; zum Beispiel waghalsige Thesen zur Geschichte der Sinfonie im Allgemeinen („beginnt erst im 20. Jahrhundert“) und zu Gustav Mahler im Besonderen („Frühsinfo­niker“). Solcher leicht rebellische Tonfall, den Jorge E. López in der Konzertein­führung anschlagen zu müssen meinte und der auch einem souveränen Moderator wie Michael Struck-Schloen zu schlucken gab, erwies sich schlussendlich doch nur als das vorweggenommene Satyrspiel zu einem Werk, das der Tradition der sinfonischen Kunstmusik doch weit mehr verpflichtet ist, als sein Autor zuzugeben bereit war.

Dies vor allem, nicht der metaphernreiche Beschwörungston davor, war die wichtigste Entdeckung dieser insgesamt dritten „Dome Peak“-Aufführung nach der Frankfurter Uraufführung von 1993 und der Erstaufführung der erweiterten Fassung bei den Salzburger Festspielen 1997. Dass deren Aufführung nun auch im Rahmen der WDR-Konzert­reihe „Musik der Zeit“ zustande kam, indem sie perfekt durchs Nadelöhr des Mahler-Zyklus’ der Essener Philharmonie passte, ist einmal mehr ein Verdienst von Harry Vogt, dem ebenso konzilianten wie hochengagierten WDR-Redakteur für Neue Musik.

Im gleichen Atemzug zu nennen sind die beiden anderen Garanten dieser erfolgreichen Aufführung eines höllisch schwer zu koordinierenden Werks zeitgenössischer Sinfonik. Das zahlreich erschienene, den neuen Klängen traditionell aufgeschlossene Essener Konzertpublikum erlebte ein glänzend präpariertes WDR-Sinfonieorchester, das die ungewohnte, die Orchestergruppen negierende Aufstellung in zwei Ovalen auf zwei Ebenen hoch über dem Publikum aufwändig geprobt hatte. Kurzfris­tig war man dafür ins Kölner E-Werk ausgewichen, das dem terrassenlosen Kartonformat des (wunderbaren) Festsaals der Essener Philharmonie recht nahe kommt.

Und doch blieb für Emilio Pomarico noch genug zu tun. Wie einen Wanderer über dem Nebelmeer hatte man den Dirigenten auf seinem Ausguck in der Podiummitte platziert. Von dort aus zwei kreisförmig-geschlossene Instrumentalisten-Reihen zu dirigieren, vier Schlagzeugpositionen außerhalb des Saals gar nicht zu erwähnen, kam hier tatsächlich der Quadratur des Kreises gleich. Kein Problem in der Kunst, wenn sie denn so kunstvoll wie hier, im Sinne von Karl Valentin mit viel Arbeit also, angegangen wird.

Immerhin: Dazu, zur Kunst nämlich, gab es eine ganze Reihe markanter Berührungs- und Anknüpfungspunkte. So massenreich und entsprechend laut sich López’ „Dome Peak“ (nach einem Berg im US-amerikanischen Bundesstaat Washington) auch gibt, so extravagant er in seiner Instrumentenwahl mit Ölfässern und großem Hammer auch verfährt – im Kern ist sein „Kuppelgipfel“ ein Stück, das die Instrumental­charakteristik des Orches­ters kennt und respektiert. Gewiss, mit den Formbildungs­prozessen der Sinfonik hat dieses Werk nichts mehr zu tun. Doch auf die Klangbildung, auf das Ein- und Ausschwingen setzt der gebürtige Kubaner Jorge E. López wie noch jeder Sinfoniker vor und nach ihm.

Noch der zarteste Geigenton, sofern er allein steht, bekommt die Zeit, die er braucht. Was nicht minder gilt für das tonlose Spiel, aus dem López überhaupt die formbildende Struktur seines Raumklangstücks ableitet. Wenn die auf der oberen Galerie positionierten Streich- und Blasinstrumente der tiefen Register ihr Schnaufen und Scharren hören lassen, schafft dies unwillkürlich jene Spannung und Erwartung, die sich lange Augenblicke später entladen kann, sei es im Aufblitzen einer Flöte oder in der sukzessiv in den Ecken explodierenden Perkussion. Aus diesem Auf und Ab, Hin und Her lebt das Stück. Es hört auf, wenn kein Stoff für neue Kernfusionen mehr zur Verfügung steht.

Anders, als der Komponist es will, wenn er als wortreicher Interpret in eigener Sache „Rituale“, „Höhlenwanderungen“, „hinduistische Tempelstrukturen“, „Urreligion“ und dergleichen beschwört, arbeitet „Dome Peak“ in Wahrheit mit den Musikern, nicht über sie hinweg, und vor allen Dingen nicht gegen sie. Darin darf man sicher Grund und Ursache dafür sehen, dass sich der Uraufführungsdirigent und Auftraggeber Michael Gielen seinerzeit stark für López eingesetzt hatte. Emilio Pomarico, der Dirigent der lichtvollen Essener Aufführung, hat den Stab genau dort wieder aufgenommen. Apropos: Dankbar muss man ihm wie Harry Vogt insbesondere dafür sein, dass sie der Bitte des Komponisten erfolgreich widerstanden haben, den Essener Konzertsaal in eine die „Überwältigung“ ermöglichende abgedunkelte Höhle zu verwandeln. Diesem Herzensanliegen von López nicht nachgegeben zu haben, ist dem Werk und seiner Rezeption zugutegekommen. Überhaupt ist der noble italienische Dirigent an diesen K2 der neueren Sinfonik ebenso zeichnend herangegangen wie im ersten Konzertabschnitt an Mahlers „Adagio“ aus dessen unvollendeter Zehnter.

Nur das feine Sakko samt Einstecktuch, das hatte Pomarico nach der Pause dann doch gegen eine Pullover-Ungezwungenheit getauscht. Was aber auch schon der einzige Unterschied war.

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