Die Suche nach dem Personalstil des 1963 geborenen Komponisten Christian Jost, wie der Opernbesucher ihm in dessen „Hamlet“ begegnet, scheint in der jüngsten Musiktheater-Uraufführung unmöglich, vergraben unter eruptiver Schlagwerk-Gewalt. Wie Pina Bausch mit ihrem Tanztheater in den fernen Osten gefahren war, um sich von dortigen Traditionen inspirieren zu lassen und dann ihre individuelle Synthese vorzustellen, so hat auch der Komponist mit den Performern des U-Theatre in Taiwan intensiv zusammen gearbeitet; diese Künstler konnten zwar keine Noten lesen, haben aber Josts Kompositionsidee ins körperliche Gedächtnis gespeichert um sie reproduzierbar auszumusizieren, die in ihrer Musik und Darstellung tatsächlich eine Einheit bildet, wie man sie nur selten erlebt.
Jedes Bühnenstück braucht eine Handlung, sei sie auch noch so minimal, wie in dem von Richard Wagner als „Handlung“ bezeichneten WWV 90, „Tristan und Isolde“. Ähnlich arm an äußerer Handlung ist „Lover“, das jüngste Bühnenwerk von Christian Jost. Das Musik-Tanz-Theater für gemischten Chor und Schlaginstrumente ist eine durch Zwischenspiele verbundene, sechsteilige Abfolge alter chinesischer Lyrik mit drei Gedichten von E. E. Cummings. Die Korrelation chinesischer Texte aus dem 2. Jahrhundert vor bis zum 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung mit der damals enorm provokanten Lyrik E. E. Cummings’ aus den USA der 1920er- und 30er-Jahre, beleuchtet die Liebe in diversen Aspekten. Dabei bestimmt „der Klang der Worte [...] den Inhalt, wie der Inhalt den Klang der Worte bestimmt“, heißt es auf einem ausgereichten Informationsblatt zur Uraufführungsproduktion.
Schon der Auftakt ist ungewöhnlich: Zwei Chorhälften, mit Noten in den Händen, ziehen im Halbdunkel auf die Bühne, und rituell tritt auch der Dirigent auf – so dass der, in Oper und Konzersaal gleichermaßen übliche Begrüßungsapplaus unterbleibt.
Umgeben von, den hereinrollenden, allesamt fahrbar gelagerten Instrumenten, erfolgt die eröffnende Begegnung eines jungen Mannes mit einer Schilf pflückenden Frau. Die Geschichte aus dem I-Jing, er verliebt sie ich sie und begehrt sie in schlaflosen Nächten, bis sie sein Liebesflehen erhört, fasst Jost mit Tenorsolo und der Impression von Vogelschreien des Fischadlers in Klänge. Das mit Bogen gestrichene Vibraphon lockt einen androgynen weißen Tänzer mit seinem erhobenen Speer und drei Damen in rosé- Kostümen. Sechs Männer mit nackten Oberkörpern stoßen mit Stangen phallisch auf große Gongs. Der Gedanke, dass das Rühren des Gongs in China eine Form der Todesstrafe war, mischt sich sinnlich mit den Sinnen über den „petit mort“, den kleinen Tod, wie man den transzendenten Orgasmus auch nennt.
Aber die Klanggewalt scheint darauf zu zielen, das Denken auszuschalten und sich sinnlich dem künstlerischen Erlebnis hingegeben, das die Jahrhunderte vereint, die Liebe in ihrem Kern heraufbeschwören will.
Mit Geigenbögen, Schlägern, Hämmern und Stöcken unterschiedlicher Härte werden die Klangschalen angeschlagen und gestrichen, wobei dieses Streichen stets auch ein Streicheln ist. Wie die Klangschalen, so decken auch die Rhythmusinstrumente einer Batterie von Trommeln den gesamten Tonraum ab, vom Diskant bis zu den raumerschütternden Magic und Monk Gongs in den Kontraoktaven.
In der zweiten Szene geht es um die Skrupel einer Frau beim Flirt mit einem verheirateten Mann, aber die Lust bricht ihren Widerstand. Der gesungene Wortlaut von Cummings' Gedicht ist nicht zu verstehen, denn die Raumakustik im optisch imposanten, von asiatischen Lichtdesigner Keh-Hua-Jan pointiert ausgeleuchteten Kraftwerk Berlin-Mitte ist jeglicher Textverständlichkeit abträglich. Und Übertitelungen gibt es in dieser Oper nicht. Texte, wie „ hörnicht auf, sagte sie/ oh nein sagte er/ mach langsam sagte sie/ kkkommen? sagte / hmmm sagte sie / du bist göttlich! sagte er/ du bist mein sagte sie“, lassen sich nur nachlesen, erreichen aber mit den Kaskaden der Trommlerinnen doch auf direktem Wege die Unterleibsregionen der Besucher.
Ebenfalls auf Cummings basiert die dritte Szene, „ich mag meinen Körper, wenn er bei deinem Körper ist“, bringt die detaillierte Vergegenwärtigung jedes Details der Geliebten, auch in ihren intimsten Regionen. Jost schafft die Ekstase als einen „Zustand höherer intellektueller und körperlicher Wachheit und Sensibilität“.
Im zumeist tonal bezogenen Spektrum fehlt es nicht an Reminiszenzen zum gregorianischen Choral, den die Pop-Welt vor einem Dezennium bereits für sich entdeckt hatte.
Besonders eindrucksstark sind leise Klangmischungen aus tiefer Trommel und hoher Klangschale. Dazwischen verlässt der als Dirigent seine Komposition interpretierende Komponist auch mal sein Pult, überlässt die Bühne einem Tanz-Solo im Zusammenspiel mit großer Trommel. Dann dreht sich Jost Richtung Publikum, wenn der Chor mit erleuchteten Noten in den Händen rechts und links neben den Publikumsreihen a cappella singt. Paar-Tänze von Herren und Damen, wobei der weiß gewandete Androgyne nun auch mit einem Herrn tanzt. Sehr langsam und sehr die Steigerung zum Auftritt eines fast nackten Solopaars; sie fühlt ihn herein und verführt ihn zu einem entschleunigten Liebesparkur.
Zu jenen schweren dumpfen Trommeln, die auch den Chor rein in einen schlagenden Rhythmus gebunden haben, mischen sich kleine Becken, deren Rhythmus wieder etwas tänzerisch-Schwebendes auslöst.
Der Chor zieht wieder auf die Bühne und erneut intoniert der Rundfunkchor berückend a cappella. Selten gibt es Querstände, wie im vorletzten Chorsatz. Der sinnliche Nachvollzug einer illegitimen Beziehung gipfelt in der Erkenntnis eines chinesische Volksliedes, „Lust der Liebe ist größer als die moralische Existenz, am Ende aller Tage mit den Menschen zu Staub zerfällt“.
Ein weiblich gewandetes, zweigeschlechtliches Tänzerpaar steigert das eigene Lustempfinden durch Drehungen, wie die von tanzenden Derwischen, um dann in enger Umarmung zu einer Steigerung von Einheit zu gelangen. Gleichzeitig senkt sich aus der Höhe der Halle eine aus zwölf weißen Brautschleiern gebildete Röhre rings um das Paar.
Die sind nun selbst geborgen im Schoß ist der Liebe, der sich rot färbt. Mit diesem Schlusseffekt könnte das Ende erreicht sein, aber Jost knüpft noch einen verhaltenen Chorsatz an, der an dem Chorus mysticus in Mahlers Komposition der Schlussszene von „Faust zwei“, dem zweiten Satz seiner Achten, erinnert. Das abschließende Gedicht, ein chinesisches Volkslied aus der Han-Dynastie, ist das Versprechen, der Schwur eines Lovers, erst von ihr zu lassen, „wenn der Berg keine Gipfel mehr hat, das Flussbett trocken ist, Himmel und Erde eins sind“. Der weiß gewandete Androgyne mit dem silbernen Speer bildet wieder das Zentrum. Das Liebesspiel in seinen Variationsformen mag von vorne beginnen.
Der vom Berner Dirigenten Nicolas Fink einstudierte, hinreißend sechsstimmig singende Rundfunkchor, die Kostümkreationen von Johann Ku, die Regie von Ruo-Yu Liu, das 1988 gegründete U-Theatre Taiwan und der Komponist als Dirigent seiner Uraufführung Produktion bilden eine Einheit, wie sie im Musiktheater höchst selten zu erleben ist.
Im inklusive Stehplätzen restlos ausverkauften Kraftwerk, das hier seinen Namen auch kompositorisch, choreografisch, und in der Einheit von Empfindungen auf beiden Seiten der Rampe Genüge tut, folgte bei der dritten und vorerst letzten Aufführung nach dem Verklingen des letzten Tons eine ungewöhnlich lange Stille der Ergriffenheit. Dann heftiger Applaus mit Begeisterungspfeifen und Standing Ovations für alle Beteiligten. Das U-Theatre sei „in hunderten von Proben ein richtiges Orchester geworden, das es so noch nie gegeben hat“, erzählt der Komponist, „die Musiker nehmen jedes Zeichen, jede Geste, jede Emotion von mir ab. Das ist eine ganz starke Verbindung geworden.“
So gesehen, handelt es sich bei diesem Musik-Tanz-Theater um ein Werk, das schwer wenn nicht sogar unmöglich in anderer Formation nachspielbar ist. Aber für all jene, die es nicht miterleben konnten, gibt es einen Trost: das TIME Lab das Fraunhofer Heinrich -Hertz Instituts hat die Produktion in 3-D und Wellenfeldsynthese eingefangen: „Lover“ als Film soll bei der Berlinale 2015 erstmals zu sehen sein.