Hauptbild
Catherine Naglestad und John Daszak in der Münchner Festspielproduktion von Franz Schrekers „Die Gezeichneten“. Foto: Wilfried Hösl
Catherine Naglestad und John Daszak in der Münchner Festspielproduktion von Franz Schrekers „Die Gezeichneten“. Foto: Wilfried Hösl
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Der Komponist ist anwesend: Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ bei den Münchner Opernfestspielen

Publikationsdatum
Body

Franz Schrekers Oper „Die Gezeichneten“ von 1918 ist eigentlich eine Steilvorlage für das Regietheater. Triebsublimation, Außenseitertum, künstlerische Selbstreflexion – allein schon die Hauptfigur, der missgebildete Alviano Salvago, gäbe Stoff genug für subtile Tiefenbohrungen, für das Sichtbarmachen von Schrekers komplexer Gedankenwelt. Eigentlich.

Krzysztof  Warlikowski beschränkt sich in seiner Münchner Staatsoperninszenierung, der Hauptpremiere der Opernfestspiele, leider darauf, der im Original in der Renaissance spielenden Handlung ein zeitgenössisches Setting zu verpassen (Bühne und Kostüme: Małgorzata Szęśniak). Das wirkt auf den ersten Blick durchaus plausibel und perspektivenreich: Der Genueser Edelmann Alviano ist bei Warlikowski ein Kunstsammler, dessen Kopf wie bei David Lynchs „Elephantenmensch“ von Verformungen entstellt ist. Eine blutrot untergehende Sonnenkugel ist sein spektakulärstes Objekt. Als die Künstlerin Carlotta Nardi davon spricht, am liebsten male sie Seelen, enthüllt Alviano gerade eine Neuanschaffung, einen Glaskasten, der eine lebende Frau zur Schau stellt (eine Anspielung auf Tilda Swintons Kunstaktion „The Maybe“ im New Yorker Museum of Modern Art). Im Lauf der ersten Szene hatte er selbst sich ein verdeckendes Tuch vom Kopf gerissen…

Die Figur der Carlotta ist an Marina Abramović angelehnt, die Ateliersitzung des zweiten Aktes, zu der sich Alviano als Modell überreden lässt, findet wie deren legendäre MoMa-Performance „The Artist is present“ gegenübersitzend an einem Tisch statt. Im Hintergrund läuft als kryptische Videoinstallation eine Alltagsszene von Menschen mit Mäuseköpfen. So wie diese von einem der vielschichtigsten, psychologisch interessantesten Liebesduette der Operngeschichte ablenkt, so lässt Warlikowski auch sonst mit permanenten Parallelaktionen entscheidende Szenen ins Leere laufen, besonders absurd in Form eines Boxtrainings bei der dramaturgisch wichtigen ersten Szene dieses Aktes. Hier müsste eigentlich Alvanos Widersacher, der skrupellos triebgesteuerte Vitelozzo Tamare (den man auch als dessen anderes Ich hätte inszenieren können) Kontur gewinnen.

Und wie steht es mit dem künstlich angelegten „Elysium“, dem von Alviano ersonnenen Sehnsuchtsort, der von Tamare und seinen Freunden aber für heimliche Orgien mit Vergewaltigung und Mord missbraucht wird? Bei Schreker öffnet Alviano diesen im dritten Akt und lässt die Genueser Bevölkerung am inszenierten Sinnesrausch teilhaben. Warlikowski macht daraus eine Art Vernissage mit blutleerer Balletteinlage auf Spitze (Choreografie: Claude Bardouil). Das Opernpublikum darf sich im erleuchteten Zuschauerraum mit eingeladen fühlen. Anschließend werden dem Mäusevolk Szenen aus Filmen mit „Gezeichneten“ vorgeführt: der Golem, Frankenstein, Nosferatu und das Phantom der Oper auf der Suche nach Liebe – einfallsloser geht’s kaum.

Es war keine Überraschung, dass Schrekers rauschhaft-klangsinnliche, aber eben auch detailreich und tiefenscharf in die Gefühlswelt seiner Figuren eintauchende Musik sich beim Bayerischen Staatsorchester in besten Händen befand. Technisch besser kann man das wahrscheinlich nicht spielen. Dirigent Ingo Metzmacher hatte bei seinem Staatsoperndebüt aber offenbar große Angst, das irisierende Farbspektrum könne in vordergründigen Schwulst umkippen. So hielt er den Apparat immer wieder an einer sehr kurzen Leine, beließ manche der spektakulären Instrumentationseffekte fast verschämt im Hintergrund. 

Dieses Komprimieren bedeutete in den beiden ersten Akten allerdings auch eine sinnvolle dynamische Zurückhaltung. Leider ignorierten die Sänger dieses Angebot aber weitgehend. Viel Hochdruck war zu hören, vielleicht auch, um den Figuren jene Kontur zu verleihen, die Warlikowski ihnen nicht zu geben vermochte. John Daszaks weitgehend höhensicherer, kernig-herber Tenor war für den Alviano durchaus passend, identifikationsfördernde Zwischentöne waren aber kaum zu vernehmen. Catherine Naglestad setzte als Carlotta allzusehr auf eine pauschale Dramatik, einige feine Pianopassagen im zweiten und dritten Akt zeigten, welches Differenzierungspotenzial da verschenkt wurde. Gleiches gilt für Christopher Maltman als Tamare, der seinen virilen Bariton effektvoll, mit wenigen Abstufungen einsetzte. Tomasz Konieczny (Herzog Adorno) und Heike Grötzinger (Martuccia) seien stellvertretend für das durchweg hochklassige Ensemble an Nebenrollen genannt.

Im dritten Akt gab Ingo Metzmacher seine kontrollierte Zurückhaltung ein Stück weit auf und flutete das Haus mit Schrekers Orchesterexzessen. Umso eindringlicher geriet der zurückgenommene Schluss, den Metzmacher – Schrekers Partitur dafür freilich missachtend – im Pianissimo ausklingen ließ. Trotz der Intensität, die John Daszak hier als dem Wahn verfallender Alviano entwickelte, blieb doch jener Regie-Einschub als prägnantester Moment dieser insgesamt enttäuschenden Premiere im Gedächtnis, den Krzysztof Warlikowski nach der Pause an den Beginn des dritten Aktes gestellt hatte: Alviano trägt Schrekers bitter-ironische Selbstbeschreibung „Mein Charakterbild“ von 1921 vor, eine Collage aus den sich immer wieder diametral widersprechenden Kritiker-(Vor)Urteilen gegenüber dem später von den Nazis verfolgten Komponisten. Ein bisschen wenig für die erste Münchner Schreker-Produktion seit 90 Jahren.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!