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Eine Frau in einem aufwändigen creme-hellen Kleid läuft durch einen transparenten Vorhang, ohne ihn beiseite zu wischen. Er hängt ihr wie ein Schleier über das Gesicht.
Ausrine Stundyte (Nastassja) in einem großartigen, depremierendem Werk, das die Salzburger Festspiele behutsam hinter dem eisernen Vorhang hervorholen. Foto: SF/Bernd Uhlig
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Der machtlose Heilige: Weinbergs Dostojewski-Oper „Der Idiot“ in Salzburg

Vorspann / Teaser

Nach der Uraufführung in einer Kurzfassung 1991 an der Moskauer Kammeroper folgte die vollständige Aufführung von „Der Idiot" erst 2013 in Mannheim. Nur knappe fünf Wochen nach der Münchener Festspielpremiere von Ligetis „Le grand Macabre“ bringen Krzysztof Warlikowski und sein Team bei den Salzburger Sommerfestspielen in der Felsenreitschule Mieczysław Weinbergs Oper „Der Idiot“ nach Dostojewskis Roman heraus. Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert sensitiv, um den das komplexe Titelpaar mit intensiver Verdichtung gestaltenden Tenor Bogdan Volkov ereignete sich eine abgründige Premieren-Sternstunde.

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Von Krzysztof Warlikowski gibt es im Programmbuch seiner vierten Salzburger Festspielinszenierung nur Thesen und Gedankensplitter statt eines geschlossenen Konzeptgebäudes. Kein Wunder bei diesem Stoff! Die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla dagegen findet in langen Sinnbögen warme Worte für Mieczysław Weinbergs letzte Oper aus den Glasnost-Jahren 1986/87 – von den Fernsehtrickfilmen ihrer Kindheit bis zu Weinbergs Orchesterwerken und dessen Oper „Die Passagierin“. Gewiss erkannte man Produktionsmechanismen des Warlikowski-Teams aus früheren Inszenierungen, welche sich auch in dieser Arbeit mit synergetischer Affinität über das Werk wölbten. Weinbergs Komposition gibt eigentlich jeder Figur einen Funken Gottes, sogar den satirischen und sarkastischen. Die Oper des in der Sowjetunion lebenden Weinberg, der als einziger seiner Familie den Holocaust überlebte, nach Dostojewskis Roman über einen Epileptiker in Konfrontation mit einer korrumpierten Gesellschaft, ist ein ganz starkes Stück. Was natürlich erweiterte Denk- und Spielansätze zulässt. Warlikowski plädiert mit dieser Leistung gegen ein Bashing hochrangiger russisch-sowjetischer Kulturgüter während des aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine.

Warlikowskis Ansatz spielt einmal mehr in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts. Eindeutige Erkennungssignale sind die vor den Zugfenstern auf der Bühne marodierenden Plattenbauten und das D-Mark-Kürzel im Börsenticker. Etwas ist vorerst immer in Bewegung in Małgorzata Szczęśniaks Bühnenbild. Seien es die Klassenzimmer-Wandtafeln, langsam fahrende Coupés oder Unterrichtstafeln mit Einstein- und Newton-Formeln. Je mehr die russischen Seelen aus der Bahn gleiten, desto stabiler die Dekorationen. Szczęśniaks Kostümkreationen charakterisieren mit zeichenhafter Sinnfälligkeit vom Pelzmantel der sich „gefallene Frau“ nennenden Nastassja und Minirock für die sich emanzipierende Aglaja. Alexander Medwedews Textbuch verzichtete auf Dostojewskis Epilog. Die Oper endet damit, wie sich Myschkin mit seinem Freund und Rivalen Rogoschin zur von letzterem umgebrachten Nastassja legt. In höherem Sinn wird das fast ein Happy-End – auch darin, dass sich Myschkins nächster epileptischer Anfall ankündigt.

Bis zum durch eine Videoprojektion intensivierten Schluss ereignet sich das Geschehen in einer klaren, aber nicht sonderlich scharfen Personenregie. Mit den Wiener Philharmonikern erklingt Weinbergs Musik mit höchstmöglicher Dichte und Sinnlichkeit. Mirga Gražinytė-Tyla ist emotional − ohne Exaltation − und gibt der dreistündigen Partitur damit hohe Innenspannung. Weinbergs Oper entzieht sich so allen Kategorisierungen wie Postmoderne oder Sozialismus-Moderne. Das Niveau von Psychologie und Ambivalenz steht auf der exklusiven Höhe von Janáček, Debussy und Alban Berg. Es ist faszinierend, wie Weinberg die seit Ende des 19. Jahrhunderts ausgepressten Kolorit- und Szenenmodelle reaktiviert. So erreicht die ergreifend schlichte Ballade vom „Armen Ritter“ einen Gipfel intensiver Wahrhaftigkeit. Die vielen Soli des „Idioten“ Myschkin ergäben ineinander verschraubt eine abgründige Solokantate vom Jammer der Erde, des menschlichen Leids und guten, aber unmöglichen Besserungsversuchen.

Ausrine Stundyte gibt eine Nastassja, deren Callgirl-Permissivität innerhalb weniger Augenblicke wie ein bröselnder Schutzpanzer zerstäubt. Den Szenen mit den Herren der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor setzt Warlikowski etwas schäbig werdende Eleganz zu. Xenia Puskarz Thomas verkörpert mit zunehmend dramatisch geführter Stimme Aglajas Panik und ihre Verzweiflung am „Idioten" Myschkin, welcher mit missverständlicher Gleichmut seine Mauern gegen Aglajas emotionalen Stromstöße aufpumpt. Vierter im ambivalenten Liebesquartett ist Vladislav Sulimsky als Rogoschin. Er gibt einen im Lauf seiner Leidenschaft immer sensibleren Kerl und immer feineren Facetten. Mehr seine drei Mitspieler als der esoterische Drahtzieher Myschkin reizen Segen und Fluch der Ehe in Gedanken und Lebensplanspielen aus. Da spielt die Neuproduktion zugleich im 19. Jahrhundert des prophetisch skeptischen Dostojewski und in einer Gegenwart, in welcher die Ehe in einigen Zivilgesellschaften als Relikt des patriarchalen Machtmodells unter immer heftigeren Kritikbeschuss kommt.

So wird Weinbergs Oper zum Musiktheater-Roman unter Führung des Tenors Bogdan Volkov in der Titelpartie und eine Extremherausforderung für das Publikum. Gefühlt ist die Partie des „Idioten“ so lang wie Tristan oder Siegfried, allerdings für lyrischen Tenor. Weinberg entwickelte für Myschkin Kantilenen von charismatischer Fülle, Dichte und immer wieder sphärischer Schönheit. Man kommt ihnen aber weder ausschließlich mit Schmelz noch mit Charakterfarben bei. Am Ende richtet sich die Kamera auf die tote Nastassja, einen fast friedlich dreinblickenden Mörder Rogoschin und einen Myschkin, nach dem der nächste Anfall greift. Sogar zwischen Rogoschin und Myschkin kommt es zu einer fast homoerotisch anmutenden Intimität neben der Toten im Doppelbett.

Das vieldeutige Spiel wird durch ein ganzes Ensemble-Arsenal hoch motivierter Sängerinnen und Sänger erweitert, welche manchmal auch – das passt – auf Opern-Boulevardtheater machen. Allen voran Iurii Samoilov als tänzerischer Kommentator Lebedjew. Pavol Breslik spielt die einzige Figur des Stücks, welches dem Stereotyp eines jungen Liebhabers bei Dostojewski wenigstens ansatzweise nahekommt: Ganja, einen der um Nasstassja herumschwadronierenden Möchtegern-Bräutigame. Bis in die kleinen Partien ist diese Produktion treffend besetzt. Eine Produktion von außerordentlich hoher Spannung mit einer an die Tiefen der Psyche rührenden Musik.

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