Als Georges Delnon und Kent Nagano im April ihre Pläne für ihre erste Saison als Leitungsduo der Hamburgischen Staatsoper vorstellten, da kündigten sie an, das Haus künftig mehr in die Stadt hinein zu öffnen. Zum Eröffnungswochenende haben sie im Wortsinne ein Zeichen gesetzt: Bis Mitte Oktober leuchtet an der Stirnfassade das farbschillernde Traumgespinst „Light Flow | Light Stream“ der Lichtkünstlerin Rosalie. Und die Premiere von Berlioz’ „Les Troyens“ wurde zeitversetzt auf eine Großleinwand am Jungfernstieg übertragen.
Gegen Ende waren dort freilich nicht mehr viele Getreue anzutreffen. Das lag nicht nur an der abendlichen Kühle. „Les Troyens“ stellt erhebliche Anforderungen an Interpreten und Publikum. Es geschieht wenig, es wird viel erzählt, und das auf Französisch. Der Regisseur Michael Thalheimer lässt die Akteure häufig einfach nur dastehen. Das wirkt geradezu oratorienhaft, zumal es statt des Ausstattungsbombasts der Grand Opéra lediglich zwei Holzwände zu sehen gibt und darüber ein schwenkbares Tor – fertig.
Die Sopranistin Catherine Naglestad und die Mezzosopranistin Elena Zhidkova als die unglücklichen Heldinnen Cassandre und Didon gleichen das weitgehende Fehlen einer Personenregie durch die Intensität ihrer Darstellung aus.
Besonders Zhidkovas dramatisch leuchtendes Timbre ist eine Entdeckung, wie auch die Tenorstimme Julian Prégardiens als Hylas. Anderes musste sich am Premierenabend erst finden, etwa der anfangs wenig fokussierte Chorklang oder auch die Abstimmung zwischen Graben und Bühne. Doch fing Nagano am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Berlioz’ Idiom mit feinem Gespür ein, etwa die schleierzarte Atmosphäre der „Königlichen Jagd“, eine Art französisches Waldweben.
Mitten ins Herz traf die Uraufführung von Michael Wertmüllers Musiktheater „Weine nicht, singe“. Dea Loher hat für ihr Libretto die Tragödie des Nahostkonflikts gleichsam in eine Nussschale gegossen. Da kommt ein ehemaliger Nachbar nach 15 Jahren zurück, um Schulden zu begleichen. Beim Versuch, die Grenze zu überwinden, wurde Aki immer wieder für Jahre ins Gefängnis geworfen. Und beide Seiten blieben ohne Nachricht voneinander. Mit fatalen Folgen, die bis in die Gegenwart hinein wirken.
Jette Steckel hat einen wahren Totentanz inszeniert. Das Stück gewährt keinen Moment der Entspannung. Sätze reißen ab, die Musiker von Ensemble Resonanz und Steamboat Switzerland lassen ihre Instrumente ächzen und schreien, den Klang bersten. Und der Dirigent Titus Engel tanzt unaufhörlich mit bei diesem Mix aus Zwölftonmusik und Heavy Metal.
Wertmüller hat eine ungemein motorische, rhythmisch pointierte Musik geschrieben. Man kann es hören, dass die Familie auch in ihrem Haus nicht sicher ist, dass die Granaten, die im Kopf des Großvaters Zeno ihre Splitter und den Wunsch zu sterben hinterlassen haben, jederzeit durch die Mauern dringen könnten.
Josef Ostendorf als Zeno ist, obzwar an Kopf und Geist versehrt, das moralische Herz in dieser Auseinandersetzung zwischen dem Heimkehrer Aki, mutmaßlich Palästinenser, und der mutmaßlich jüdischen Familie. So wie jeder an seiner Wahrheit zugrunde geht, so entäußern sich die Darsteller: Jürgen Sacher schraubt sich in höchste Tenorhöhen, wenn sein Ron um Fassung ringt, Ruth Rosenfeld als Rons Frau Altai fällt von einer Hysterie in die nächste, Holger Falk gestattet seinem Aki zwischen hypermotorischen Anfällen anrührende lyrische Momente. Und die Schauspielerin Tina Keserovic, die sich der 15-jährigen Mira bis in die Stimmfärbung anverwandelt, könnte allein diesen denkwürdigen Abend tragen. Wie jeder einzelne Mitwirkende.
Keine Tragödie ohne Comic Relief. Vom Theater Basel hatte Delnon Christoph Marthalers „Isoldes Abendbrot“ mitgebracht. Mit Wagner hat die Sache nur lose zu tun, mit Liebe irgendwie kaum. Aber Marthaler hat sich ja schon mit seiner Bayreuther „Tristan“-Inszenierung als Meister des Nicht-Gesagten erwiesen. Im Zentrum dieser Revue der leisen, urkomisch-traurigen Töne steht eine Frau, virtuos gesungen und gespielt von der Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter. Ob sie Isolde ist? Die Figur bleibt so namenlos wie die drei Gerupften, die in einer Hotelbar auf Hockern um sie kreisen, ohne je eine erotische Annäherung zu versuchen.
Im Kern geht es um das Verschwinden, den Verlust der Identität. Manches Motiv kehrt sich ins Gegenteil. Den Liebestrank etwa braut die Bardame zu Wagners „Liebestod“ in Laborgerätschaften zusammen, dass es nur so schäumt. Die Männer trinken ihn dennoch bereitwillig und stoßen dann ein kollektives Brunftgrunzen aus, bevor sie zuckend an ihrer Vergiftung verscheiden – um umgehend wieder aufzuerstehen.
Diese und andere Absurditäten führen die Schauspieler Ueli Jäeggi, Graham F. Valentine und Raphael Cramer mit viel Lust am Slapstick vor. Chapeau, wie blitzsauber sie ihre Ensemblenummern singen. Der furiose Pianist Bendix Dethleffsen eskortiert die Dame und die drei Herren durch einen Reigen von Bach bis Elvis Costello. Und den letzten Ton hat, natürlich, Mahlers „Ich bin der Welt abhanden gekommen“.