Es riss die Zuschauer regelrecht von den Sitzen hoch, als der letzte Ton noch nicht verklungen war. Das habe ich noch nie erlebt. Die Begeisterung galt der Premiere von Giuseppe Verdis „La Traviata“ im Theater am Goetheplatz. Und sie galt eigentlich einer einzigen Frau, Patricia Andress. Denn nur sie stand fast zweieinhalb Stunden auf der Bühne. Der Regisseur Benedikt von Peter hatte alle anderen Protagonisten in den Rang verbannt: das Geschehen findet nur im Kopf der Violetta statt.
Die Geschichte der Kurtisane Violetta Valéry, die sich in den gut bürgerlichen Alfredo verliebt, aber aufgrund der Moralvorstellungen von dessen Vater auf ihn verzichtet, findet keine szenische Umsetzung, sondern die Szene und Stimmen erschienen nur im Hilfe schreienden Monolog der Violetta.
Von Peter bezieht sich für diese Entscheidung auf den „psychoanalytischen Raum“ der Ouvertüre, die die Unwirklichkeit einer realen Liebe vorzugeben scheint, die die Einsamkeit und den Tod nennt. Er bezieht sich auf die Tatsache, dass bis auf eine Ausnahme Violetta immer auf der Bühne steht und darauf, dass es kein Liebesduett zwischen Alfredo und Violetta gibt, er bezieht sich auf Violettas überraschend schnelle Entscheidung, auf die perfide Zumutung des Vaters einzugehen, sich von Alfredo zu trennen, und auf vieles mehr. Doch häufig sieht man auf der Bühne nicht, was in den Programmheften behauptet und erläutert wird. Hier ist es anders: Das radikale Konzept geht auf erschütternde Weise auf, zeigt uns eine einsame Frau, die die Liebe gar nicht zulässt, aber vergeht vor Sehnsucht nach ihr und am Ende bewusst zu sterben scheint für ihre Idee von der Liebe, die der „Puls des Universums“ ist, wie Alfredo meint.
Für dieses Szenario baut die Protagonistin ihre Bühne: sie schiebt Türen, Tische und Fenster hin und her (Bühne von Katrin Wittig), deckt den Tisch für ein imaginäres Gegenüber, verkleidet sich für die Rückkehr nach der „Wüste Paris“, umklammert einen Stuhl, hört aus einem Kofferradio die Arie des Alfredo, rennt im Publikum herum und schreit nach Alfredo, umarmt das Drahtmodell ihres neuen Kleides und ihrer neuen Identität, von dem sie sich dann trennt und es hoch schweben lässt. Violetta kämpft darum, als „Ich“ und nicht als ein Objekt gesehen zu werden, was sie gewohnt ist. Dass erfordert eine schauspielerische Hingabe an die Rolle und ein Können, die nicht unbedingt der Alltag in der Oper ist. Mit seiner Protagonistin unternimmt von Peter alle Anstrengungen, eine nicht künstliche, sondern eine wirkliche Emotion zu gestalten und das Publikum miteinzubeziehen: This is for you, sagt Violetta am Anfang zu uns, was auf einer Subtextebene heißt: schaut mich an. Im zweiten Akt krabbelt sie sogar wirklich zu uns, über die Stühle.
Andress gelingt es in der pausenlosen Aufführung nicht sofort, uns in den Bann ihres Geheimnisses zu ziehen: vieles wirkt noch geplant, gewollt, eben ausgeführt. Doch das verliert sich im zweiten und erst Recht im dritten Akt und wird zu einer einfach wunderbaren Größe von Verdis psychologischer Kunst. Der hatte einmal an einen Sänger geschrieben, er solle sich um „Text und Darstellung“ kümmern, die „Musik kommt von selbst“. Eine zentrale Aussage, die diese Aufführung ernst nimmt, wenn Andress sich zwischen fast tonlosen pianissimi und leidenschaftlichen Ausbrüchen in makellosem Bel Canto bewegt. Auch das auf der Bühne spielende Orchester unter der einfühlsamen Leitung von Clemens Heil sekundiert hier mit wunderbaren Stimmungen bestens, nicht eben einfach bei den technischen Kommunikationen, die hier verlangt werden. Die Sänger im Rang waren Hyong Kim mit schönstem Belcanto als Alfredo und Loren Lang als bedrohlicher Germont, es ist für seine Stimme nicht unbedingt die richtige Rolle.
Es ist selten, dass eine Inszenierung so berühmt wird, dass sie an einem anderen Theater wiederholt wird: Diese hier wurde vor drei Jahren in Hannover erarbeitet, hat dort anhaltend ausverkauftes Haus, was sich bei der Bremer Realisierung auch jetzt schon abzuzeichnen scheint. Benedikt von Peters dritte Arbeit – nach „Mahagonny“ und „Mahler III“, im Januar wird „La Bohème“ folgen – als leitender Regisseur der Oper Bremen überzeugt wieder einmal mit dem Anspruch, Oper neu zu denken: nichts interessanter, als sich daran zu gewöhnen.
Die nächsten Aufführungen: 5., 21. (18 Uhr), 26. und 31. 12. (15 Uhr) , 10. und 21. Januar 2014.