Die zunächst in London, dann in Sidney laufende „Nase“ in der Inszenierung von Barrie Kosky ist in Berlin angekommen. In deutscher Übersetzung setzt sie endlich einmal den von Beginn bis zu dieser Intendanz-Ära an der Komischen Oper als Alleinstellungsmerkmal ausschließlich geübte Praxis der Opernaufführungen in Landssprache fort. Die umjubelte Premiere von Schostakowitschs frühem Opern-Wurf wurde zu einem späten Höhepunkt dieser Saison und zugleich zu einem hoffnungsreichen Einstand für den künftigen GMD Ainārs Rubiķis.
Die bis in die Dialogführung hinein auf Nikolai W. Gogol basierende Oper des 21-jährigen Dmitri Schostakowitsch zeigt, wohin die Reise dieses Komponisten ohne die stalinistischen Zwangsschrauben hätte gehen können. Der in der Partitur des Jahres 1930 überbordende, sarkastische und groteske Ansatz potenziert die auch in Russland bald darauf verbotene Moderne, mischt Techniken des Filmschnitts mit Errungenschaften Alban Bergs, dessen „Wozzeck“ Schostakowitsch 1927 in Leningrad erlebt hatte. Europäische Tänze und opernhafte Romanzen prallen auf russisch-orthodoxen Sakralgesang, jeweils hart geschnitten und untergraben von den musikalischen Formen des Straßentheaters und des Zirkus.
Rülps- und Furzgeräusche sowie eine instrumental geradezu realistisch gezeichnete Kopulationsmusik sorgten wenig später, bei Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth von Mzensk“, für Aufregung und Aufführungsverbot. Doch bereits in der „Nase“ begegnen dem Zuhörer in Musik umgesetzte Höhe- und Tiefpunkte des Lebens in gehäufter Form. Und auch die in „Lady Macbeth“ in der Polizeiszene herrschende Überzeichnung kulminiert hier, geradezu ausufernd, in den sich immer wieder grotesk überschlagenden Polizei-Szenen.
Odyssee durch die menschliche Gesellschaft
Die „Horrorgeschichte“ (Schostakowitsch) vom Kollegienassessor Kowaljow, dem seine Nase abhanden gekommen ist, wodurch er gesellschaftlich ins Aus gerät, wird von Barrie Kosky als eine Folge in einander verschachtelter und sich potenzierender Albträume einer Odyssee durch die menschliche Gesellschaft in Szene gesetzt.
Dabei macht der Regisseur bereits in den ersten Szenen deutlich, dass es sich um keinen bloßen Remake seiner erfolgreichen Inszenierung am Londoner Royal Opera House, sondern um eine echte Berliner Fassung handelt: Schauspieler verkörpern Besucher, welche die Komische Oper mit der Staatsoper Unter den Linden verwechselt haben und das Auditorium unter Protest verlassen. Und gegen Ende überhöht eine angebliche TV-Reporterin, wortreich um Entschuldigung heischend, das Absurde ad Absurdum. Koskys Revue – dies war nicht anders zu erwarten – lässt keinen Zweifel an der Gleichsetzung von Nase und männlichem Genital.
Klaus Grünberg und Anne Kuhn, zusammen für Bühnenraum und Licht verantwortlich, stellen die Szenen zunächst auf einen großen runden Tisch, auf dem sogar der komplette Chor bei einer Trauerzeremonie in der Kirche Platz findet. Später wird dieser Tisch als fahrbare Rikscha-Tische vervielfacht. Wohl nur aufgrund der Koproduktion mehrerer Opernhäuser wirtschaftlich möglich (zu Covent Garden und der Opera Australia kommt noch das Teatro Real Madrid), sind die Kostüme von Buki Shiff als eine Augenweide eigener Art zu erleben: ungewöhnlich üppig, in Samt und Seide und grell bunt.
Die Zwischenspiele sind zumeist durchinszeniert und von Otto Pichler mit einem Transen-Ballett durchchoreographiert. Einer der Höhepunkte ist ein Ballett der tanzenden, übergroßen Nasen als einzige Kostümierung; ein Junge als kleine Nase fügt sich dabei steppend und wirbelnd in den Qualitätsanspruch der erwachsenen Profis.
Ein permanent an die jeweils zuvor gerade als Maßstab gesetzte Rasanz anknüpfendes Tempo der Bewegung schlägt die Zuschauer_innen in Bann.
Berliner Besetzung ist schlichtweg umwerfend
Die Berliner Besetzung ist schlichtweg umwerfend in dramatischer Präsenz sowie in der Erzeugung von Wortfülle in der deutschen Textfassung von Ulrich Lenz. Alle Darsteller_innen haben übergroße Nasen im Gesicht und sind bereits durch diese Maskierung physiognomisch verfremdet und grotesk zugespitzt für die zahlreichen Rollen, die sie an diesem Abend mit schnellen Umzügen zu verkörpern haben. Eine Bravourpartie als multipler Gegenspieler des nasenverlustigen Kowaljow verkörpert Jens Larsen, köstlich und eigenwillig als Barbier, als Leiter der Annoncenredaktion und als Arzt. Ivan Turšić als Diener und Geschlechtsverkehrspartner des (noch) unbeweibten Assessors sorgt mit überlang ausgehaltenen Tönen, wie sie einige seiner Kollegen als Startenöre zu produzieren pflegen, für Heiterkeit. Unter den Damen bleiben Ursula Hesse von den Steinen und Mirka Wagner in skurril-angenehmer Erinnerung. Das gesamte Ensemble und der von David Cavelius einstudierte Chor singen und spielen geradezu so um die Wette, als gelte es einen Dauerrekord an intensiver Musikdarstellung aufzustellen.
Den Löwenanteil leistet dabei Günter Papendell in der Hauptrolle. Der Bariton hatte an diesem Haus bereits als Don Giovanni – in der Fritsch-Inszenierung – seine clownesken Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Als nasenverlustiger Kollegienassessor Kowaljow hat er kein schwarzes Loch im Gesicht, sondern seine eigne Nase ist rot geschminkt; dadurch wirkt er, im dunkelroten Samtanzug, wie ein Clown des Grand-Guignol. In Stimm- und Körperbeherrschung souverän, zappelt und wirbelt er durch die Sequenzen seiner Albträume.
Bisweilen an der Schmerzgrenze der Lautstärke entfesselt der lettische Dirigent Ainārs Rubiķis in der pausenlosen, gut zweistündigen Aufführung die Extravaganzen dieser Partitur, gleichwohl ohne die Sänger_innen zuzudecken. Seinem musikantischen Sinn folgt das Orchester der Komischen Oper sehr präzise, so dass man den weiteren Einstudierungen des neuen Generalmusikdirektors in der nächsten Spielzeit mit Spannung entgegenhören darf.
Nicht nur dem Protagonisten geht am Ende nach einem Nieser seine Nase erneut verloren, auch einem der Chormitglieder purzelt beim Applaus die Nase auf die Vorbühne: das Spiel darf erneut von vorne beginnen und sei jedem Opernfreund empfohlen!
Allen Beteiligten, inklusive dem Hausherrn Barrie Kosky und seinem Team, schlug am Ende der uneingeschränkte Jubel des Premierenpublikums entgegen.
- Weitere Aufführungen: 24., 28., 30. Juni, 6. und 14. Juli 2018.