Hans-Peter Jahn, Redakteur für Neue Musik beim Südwestrundfunk Stuttgart und künstlerischer Leiter des Éclat-Festivals Neue Musik in Stuttgart, entwickelt unentwegt frische Ideen für die inhaltliche Gestaltung seines alljährlichen Neue-Musik-Wochenendes. Dabei nimmt er sich persönlich nicht aus. Diesmal „inszenierte“ er im umfangreichen Programmbuch anstelle der meist wortreichen Einführung in das Kommende einen „Prolog“ als „Selbstgespräch“. Man stellt sich selbst die Fragen, die man gern beantworten möchte, und beantwortet sie umgehend. Das hat in diesem Fall den Vorteil, dass man zumindest etwas von der gedanklichen Vorarbeit für das Programm authentisch erfährt. Was die Komponisten und deren Interpreten denken, enthüllen dann sieben weitere umfangreiche, von Hans-Peter Jahn geführte Interviews, an die sich wiederum ein „Selbstgespräch“ als „Epilog“ anschließt, in dem der Autor weitschweifig erklärt, warum er an dieser Stelle nicht die üblichen Künstler-Biographien abdruckt. Kurz zusammengefasst, läuft das auf die Abwandlung eines bekannten Goethe-Zitats hinaus: Höre Zuhörer, lese nicht, nur ein Klang sei der Gesang.
Das genügt. Aussage Jahn: „Der singende Mensch oder die menschliche Stimme steht im Zentrum des Festivals.“ Das darf man nicht dahingehend verstehen, dass nunmehr eine Fülle tradierter Arien oder Chornummern ausgeschüttet wird. Der programmatische Ansatz formuliert sich gleichsam gedanklich abstrakt und körperlich konkret: Jeder Mensch besitzt eine Stimme und die kann, wenn sie will, dem Körper entströmen: als richtiges Singen, als Summen, als Kindergeschrei, als rhythmisch begleitendes Anfeuern etwa in Arbeitsgesängen. Jahn nennt dazu weitere zahlreiche Beispiele. Die menschliche Stimme besitzt eine Au-tonomie, fern aller thematischen Bezüge oder sonstiger formaler Gestaltungsabsichten. In einem alten Schlager, der vom „Klavierspielen können“ schwärmt, mit dem man Glück bei den Frauen habe, heißt es in der zweiten Strophe: „Der Klang des gespielten Klavieres“. Da hat sich der „Klang“ schon verselbstständigt, losgelöst von allen inhaltlichen Absichten.
Nun setzt der Mensch seine Stimme eigentlich nie einfach „nur so“ ein, ohne Beweggründe, ohne Empfindungen, ohne Stimmungen. Mit anderen Worten: das „Singen“ im weitesten Sinn entspringt meist emotionalen Impulsen. Das können Freude, sich äußernde Lust am Leben, auch Angst und Todesfurcht sein. Wie aber fasst man diese Impulse in das, was man im weitesten Sinn „Gesang“ nennen kann? Gesang auch als Geräusch, als Atemströmen, als Stammeln, als Verstummen? Das diesjährige „Éclat“-Festival war ein einziges großes Laboratorium, in dem die verschiedensten Versuche angesetzt wurden, um die oben skizzierten Themen in einzelnen Werken gleichsam „musikalisch“ zu diskutieren. In einem Konzert der vielbeschäftigten Neuen Vocalsolisten Stuttgart erfuhr ein neues Werk von Nikolaus Brass seine Uraufführung: „Stimme und Tod“, so der Titel, für sieben Stimmen a cappella komponiert. Die Stimme begleitet alles Leben, das der Menschen, wie auch das der Kreatur. Sie tönt leise, fast wie aus dem Nichts auf, mündet in Schrei und sinkt am Ende wieder ins Verstummen. Nikolaus Brass‘ halbstündiges Werk durchziehen alle nur denkbaren Geräusche, die dem Menschen neben dem „Singen“ zu Gebote stehen: Hauchen, lautes Atmen, Zischlaute, dazu Fingerschnipsen, Händeklatschen, wobei oft die Arme hochgerissen werden, so dass ein quasi-theatralischer Vorgang suggeriert wird – unser Foto oben vermittelt davon einen kleinen Eindruck. Die Neuen Vocalsolisten brachten sich mit atemversetzender Intensität in Brass‘ Komposition ein. Davon profitierte auch die Wiederaufführung von Markus Hechtles „Still“-Stück für Sprecher und vier Männerstimmen mit Akkordeon aus dem Jahr 2003. Dass die Neuen Vocalsolisten auch komödiantisch locker aufzutreten vermögen, zeigten sie in Lars Petter Hagens „The Neue Vocalsolisten Stuttgart Notebook“. Wie die Fußballnationalmannschaft umarmen sich die sechs Sänger und Sängerinnen, bilden ein dichtes Knäuel wie bei einer Verschwörung. Dann treten sie einzeln nach vorn, teilen dem Publikum etwas über ihre vokalen Befindlichkeiten mit: zu schwache Höhe bei der Sopranistin, ungenügende Stütze bei dem Sänger, der am Ende mit einem Schmachtfetzen seiner argentinischen Heimat die Besucher zu Lachstürmen hinreißt, während die anderen fünf auf kleinen Instrumenten die „Stimmen“ der eigenen Kindheit heraufbeschwören. Das ist sehr phantasievoll und anrührend als Spiel mit Stimmen und Instrumenten erdacht und umgesetzt.
Wie zu erkennen, setzt dieses Stimm-Spiel zumeist auch musiktheatralische Ausdrucksmittel frei. Das „Éclat“-Festival hat in der Vergangenheit immer wieder ambitionierte Projekte für ein aktuelles Musiktheater initiiert. Hans-Peter Jahn betätigte sich dabei als treibende Kraft, die umso wichtiger für die Neue-Musiktheater-Szene nicht nur in Stuttgart geworden ist, weil in eben diesem Stuttgart das Musiktheaterforum im Römerkastell, sozusagen „Oper Stuttgart 21“, nach Klaus Zeheleins Abgang als Staatsopernintendant sang-und klanglos aufgegeben wurde. Für „Éclat 2011“ entwickelten Regisseur Thierry Bruehl und Hans-Peter Jahn als Dramaturg ein neues „Musiktheater in fünf Bildern“, das den mehrdeutigen Titel „geblendet“ erhielt. Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen war die Person des Countertenors Daniel Gloger von den Neuen Vocalsolisten, dessen imposante Gestalt in Verbindung mit seiner hellen, kraftvoll und virtuos geführten Stimme Erinnerungen an berühmte Kastratenvorbilder wecken könnte. So ähnlich muss es seinerzeit geklungen haben, als sich die operativ konservierten Knabenstimmen mit der physischen Stimmkraft eines Mannes verbanden. Bruehl und Jahn stellten dem Countertenor zwei weitere Figuren zur Seite: einen Sängerknaben (Vincent Frisch vom collegium iuvenum) sowie einen alternden Schauspieler, den Christian Brückner mit eindringlicher Gebrochenheit darstellte. Fünf Komponisten erhielten den Auftrag, auf diese personale Konstellation, ein Streichquartett (das Quatuor Diotima) sowie ausgesuchte Textfragmente entsprechende Kompositionen zu entwerfen, wobei das Stück von Hans Jürgen Gerung („Non fare il minimo rumore“) bereits vorlag und von Daniel Gloger, für den das Werk geschrieben war, vorgeschlagen wurde. Bedauerlicherweise verzichtete der Regisseur dann aber auf Gerungs Beitrag – warum? Das wird man im kommenden Jahr vielleicht feststellen können, wenn Gerungs Arbeit bei „Éclat“ nachgeholt wird. Die vier anderen Komponisten waren Michael Beil, Mischa Käser, Manuel Hidalgo und Filippo Perocco sowie Anton Webern, dessen „Sechs Bagatellen“ (op. 9) gleichsam als „Puffer“ in der Mitte eingeschoben wurden, sensibel ausgehört vom Diotima-Quartett gespielt. Jeder Komponist konnte sich vom bereitgestellten „Material“ individuell bedienen: Beil und Käser nahmen alles, Hidalgo verzichtete auf den Sängerknaben, Perocco auf das Streichquartett.
Der gleichsam abstrakte Ansatz – Was fange ich mit drei Figuren, einem Streichquartett und ausgesuchten Textstellen an? – mündete dann schließlich doch in die Frage nach irgendeiner gleichsam narrativen Realität.
u Diese wurde mit der punktuellen Erinnerungsarbeit des alternden Schauspielers gefunden, ohne dass sich daraus nun wieder eine Handlungsoper ergab. Aber das schwer zu lösende Problem scheint doch zu sein, dass ohne eine irgendwie eingebrachte und strukturell noch so verkomplizierte „Realität“ ein Musiktheater nicht recht vorstellbar ist, es sei denn, man beschränkt sich auf einen abstrakten Klangraum, in den dann auch Figuren eintreten können, die einen zusätzlichen vokalen Klangraum beisteuern. Die Erinnerungsarbeit des Schauspielers wirkte zwischen den beiden Stimm-Polen – Countertenor und Knabenstimme – irgendwie seltsam altmodisch. Wie nicht dazugehörend. Und auch die differenziert entworfenen Partituren der vier Komponisten konnten die ästhetische Brüchigkeit nicht überdecken.
Wenn „geblendet“ dennoch einen mitunter zwingenden, fast magischen Eindruck hinterließ, dann war es vor allem Daniel Glogers stimmlicher und darstellerischer Präsenz zu verdanken. Und den wunderbar lockeren Auftritten des Sängerknaben Vincent Frisch. „Wer singt, vertreibt das Übel“, skandieren leise die Sänger und Sängerinnen des SWR Vokalensembles, während sie treppauf-treppab durchs Publikum wandeln. Der Brasilianer Flo Menezes inszenierte in „Retrato Falado das Paixoes“ für gemischten Chor und Live-Elektronik die Auftritte des Ensembles als eine Art Wandelkonzert. Das wirkte theatralisch eher unbeholfen. Aus den brillant gesungenen, farb-reichen Chorsätzen und der klangdichten elektronischen Ebene ließe sich sicher eine zwingendere Theatralisierung entwickeln. Da entfaltete Daniel Kötter in seinem dritten „Arbeit und Freizeit“-Projekt deutlich mehr kreative Phantasie, wenn ein Dutzend prominenter Kunst- und Kulturschaffender sich auf ebenso vielen herabhängenden Bildrahmen auf der Szene zum „Thema“ in kurzen Filmen äußern. Anschließend erblickte man in den Rahmen die via Video live zugespielten Köpfe der im Publikum sitzenden medialen Promis, wenn sie mit Augenblinzeln und sanftem Kopfdrehen Arnold Schönbergs Drama mit Musik „Die glückliche Hand“ zuhören, das vom unter ihren Abbildern platzierten Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Peter Rundel und dem Bariton Dietrich Henschel mit überwältigender Expression und Dramatik gestaltet wurde.
Rundel und das Orchester exzellierten auch in Jörg Widmanns „Chor“-Stück für großes Orchester und begleiteten den Posaunisten Mike Svoboda in dessen „Music for Trombone and Orchestra“ mit dem theatralisch durch das Orchester „watenden“ Komponisten als Solist. Ein Hauch von Big Band und Show wehte durch den Saal. Da erschien Samir Odeh-Tamimis zuvor gespielter „Garten der Erkenntnis“ für sechs Stimmen und zwei Posaunen als ungleich substanzreicheres Werk, von mitunter geradezu wildem Ausdruck, hinreißend interpretiert von den Neuen Vocalsolisten: Stuttgart kann stolz sein auf seine beiden meisterhaften Chöre, die Neuen Vocalsolisten und das SWR Vokalensemble, die wesentlich zum weltweiten Ruf der Musikstadt Stuttgart beitragen.
Das Éclat“-Festival 2011 hat das einmal mehr ins hörende Bewusstsein gebracht.