„cresc ...“ ist der Titel eines Festivals Neuer Musik, das 2011 in Frankfurt lanciert worden ist, und der durchaus Heterogenes assoziieren lässt. Denn schon der Begriff des crescendo signalisiert Mehrdeutiges: nicht nur das Anwachsen der Dynamik, sondern auch generell die Steigerung über das Gewohnte hinaus – ganz gewiss nicht im Sinne des „Deutschland!“-Rufers in der Wüstenei der nationalvergessenen Moderne, Botho Strauß, und seines „anschwellenden Bockgesangs“. Crescendieren kann aber auch in und über die Extreme, also auch Grenzen, führen, sie sprengen. Doch der Anfang des italienischen Terminus läßt sich in angelsächsischer Phonetik auch als „crash“ interpretieren, als Zusammenprall, Einstürzen, abrupte Konfrontation von Gegensätzen. Zudem spricht man von „Crash“-Kursen, etwa zum komprimierten Erlernen von Sprachen.
Der Festival-Name „Images of Sound“ verweist indes zusätzlich auf die gesteigerte Verbindung von Institutionen und Orten: Frankfurt, Wiesbaden, Darmstadt, Hanau. Stand „cresc...“ 2011 im Zeichen von Iannis Xenakis und „Musik im Raum“, verband Frankfurter Institutionen mit dem Darmstädter Musikinstitut, so war 2013 Bernd Alois Zimmermann im Mittelpunkt. Und diesmal wurde sogar die mediale Erweiterung vollzogen: „IMAGES OF SOUND“ galt überdies der Beziehung von Musik und Film.
Zugleich war die Biennale Hommage an Helmut Lachenmann zum Achtzigsten – und damit ein Konflikt thematisiert. Denn zum Visuellen hat er nicht unbedingt ein inniges Verhältnis; und schon der Untertitel seines „Mädchen“ – „Musik mit Bildern“ verheißt nicht partout optische Opulenz, eher deren klammheimliche Verweigerung. Wie ja sein Komponieren insgesamt von produktiver Opposition wider die tradierte Wohlklang-Nischenkultur zeugt. Lässt er in „Accanto“, eine ihrer Ikonen, Mozarts Klarinettenkonzert, quasi unhörbar mitlaufen, evoziert er wahre, neue Schönheit, indem er die patinierte zum Verschwinden bringt.
Das Wiesbadener Geburtstagskonzert erbrachte einen Zeit-Spagat: die Uraufführung der Ensemblefassung (2015) von „Air“ für großes Orchester mit Schlagzeug-Solo, 1969 in Frankfurt noch skandalträchtig. War damals die Maxi-Besetzung noch provokant als Widerspruch sowohl zur Perkussion als auch zum „ariosen“ Titel, so wirkt nun die schlankere Version tatsächlich noch „luftiger“. „Harmonica“ für großes Orchester und Tuba definiert permanent „Solo“ und „Begleitung“ um und „Schwankungen am Rand“ bleiben ein zwingendes Beispiel unberechenbar quadrophoner Musik im Raum. Lachenmann wurde gefeiert. Gleichwohl kam einem Schönbergs sarkastisches Paradoxon nicht in den Sinn: Die zweite Hälfte des Jahrhunderts werde durch Überschätzung das an ihm schlecht machen, was die erste durch Unterschätzung gut gelassen habe. Denn zur Lachenmann-„Feier“ taugte „cresc...“ nicht. Dazu waren die diversen Gegenwelten zu markant, aktuell wie historisch. Lachenmann, intimer Kenner der Musikgeschichte, ist alles andere als ein Bilderstürmer. Die große Tradition verschmäht er keineswegs, wohl aber wehrt er sich, wie Gustav Mahler, gegen die Anbetung der Asche statt das Feuer weiterzutragen. So steht er, wie nicht wenige Komponisten des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, zu Mozart ambivalent. Doch sein Motto: „Komponieren heißt: ein Instrument bauen“ findet er in der Gran Partita für zwölf Bläser und Kontrabass KV 361 vorwegnehmend bestätigt, vor allem in der quasi Kollektiv-„Lunge“ des Adagios. Danach hörte man in den „Concertini“ Divertimentohaftes ganz anderer Art.
Vorangegangen war dem Wiesbadener Konzert ein wahres Kontrastprogramm: Friedrich Cerhas „Keintate“, Gesangszyklus nach Texten Ernst Keins. Beide sind Wiener, kennen deren Abgründe wie die Wonnen des Volkstons. Keins liebevoll-giftige Verse und Cerhas Heurigen-Idiom ergeben eine vertraut-hinterhältige Hommage, von HK Gruber so souverän gesungen wie dirigiert. Hinzu kamen Dias von Franz Hubmann, die nicht minder doppeldeutig dem ewigen homo austriacus gallig Reverenz erwiesen. Die Typen-Schmäh-Zeichnungen von Manfred Deix blitzten da durchaus auf.
Film und Musik bilden fast ein Moderne-Doppel wie das historisch-globale, selbst aktuelle von Musik und Tanz. So wurde das Festival in der Alten Oper eröffnet mit einer Bild-Klang-Inkunabel: Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ von 1968. Wobei der „Soundtrack“ mit Musik von Ligeti, Richard und Johann Strauss und Chatschaturjan live unter Frank Strobel gespielt wurde. Der Film in einer weitgehend vollständigen Fassung (143 Minuten) bleibt eine suggestive Großtat der Kinogeschichte, zumal im Großformat; und die Musik eröffnet, weit über alle „Begleitung“ hinaus, unerthörte Dimensionen. Selbst wer den Film oft erlebt hat, erlag seiner Magie, gerade aufgrund seiner intergalaktischen Kälte-Ästhetik.
In die Kinogeschichte wie in die „kindgerechte“ Aufarbeitung führte Ladislaus Starewitschs Märchen-Puppen-Stummfilm „Die Wunderuhr – Der Zauberwald“ mit der Musik von Paul Dessau (1928): hochartifizielle Animations-Ästhetik, nicht ohne ironischen Augenaufschlag – haben sich edle Maid und tapferer Ritter gefunden, wird die Leinwand prompt schwarz. Begründung: „immoralité“, sprich: zensiert.
Ein Schlüsselwerk des deutschen Stummfilms war die Adaption von Gerhart Hauptmanns „Die Weber“ durch Friedrich Zelnik (1927): trotz mancher Parallelen zu Eisensteins „Potemkin“ und Langs „Metropolis“ nach wie vor ein spannendes Dokument politisch-sozialkritischer Kunst. Es ist kein Agitprop-Kino. Dazu werden die plündernden, maschinenstürmerischen Arbeiter zu wenig positiv gezeigt, bleiben die Fronten zu unentschieden. Siegfried Kracauers Urteil in „Von Caligari zu Hitler“ war vielleicht zu scharf, nicht aber ganz untriftig: „Ein anständiger historischer Film; nicht mehr.“ Der Aufstand 1844, Hauptmanns Stück (1892), der Stummfilm und das Heute: Der Zeitfächer ist weit, zu weit für eine wie auch immer historisierende Begleitmusik. Als Johannes Kalitzke 2012 die Neukomposition übernahm, tat er gut daran, alles Narrativ-Illustrative zu vermeiden, statt dessen die innere Dynamik zu verdichten – fast nach Art von Lachenmanns „Mouvement – Vor der Erstarrung“. Mag auch ab und an „Wozzeck“ aufblitzen, hat er doch alle Stereotypen vermieden, die Kinetik des Films autark zum Klingen gebracht.
Komponistinnen waren bei den Aufführungen leider nicht vertreten. Einzig bei der Gruppe um den Jazz-Gitarristen Fred Frith wirkten die Saxophonistin Lotte Anker, die Trompeterin Susana Santos Silva, die Cellistin Okkyung Lee und die Pianistin Christine Wodraszka mit. Ansonsten war es eine enorme Leistung aller beteiligten Institutionen: Zwanzig Aufführungen an elf verschiedenen Orten zogen über viertausend Besucher an. Insofern war es auch ein Crash-Kurs neuartiger Ästhetiken. Denn alles zu hören und zu sehen, war kaum möglich. Aber ein Überangebot ist allemal besser als Unterversorgung.
Und dass sich die Städte in Sachen Neuer Musik ins Zeug legen, davon zeugten etwa auch das Essener „NOW“-Festival oder die gar vierwöchigen Stuttgarter Lachenmann-Per-spektiven.