Dietrich Heissenbüttel hörte sich Christian Marclays abgründige Partituren mit Laurent Estoppey und dem ensemBle baBel in Stuttgart an.
Wieder ist die Tafel vollgeschrieben, so hoch die Arme reichen und über die gesamte Länge des Ausstellungsraums hinweg. Nach Elliott Sharp und Fred Frith interpretiert nun Laurent Estoppey, was Ausstellungsbesucher der Stuttgarter Staatsgalerie auf die Notenlinien von Christian Marclays „Chalkboard“ geschrieben haben: Neben Kommentaren in deutscher, englischer und französischer Sprache vor allem Zeichnungen, aber nur wenig, was sich direkt als Musik lesen lässt. Und wenn dann auf niederem Niveau: Gleich am Anfang ganz links steht die Melodie zu „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“.
Estoppey beginnt aber nicht links oben. Der Saxophonist antwortet auf den latent destruktiven oder jedenfalls provokativen Charakter dessen, was ihm die Museumsbesucher in die Partitur geschrieben haben, mit einer äußerst dichten, hoch virtuosen Geräuschkaskade, die sofort die Aufmerksamkeit fesselt. Im Verlauf des einstündigen Auftritts kehrt er immer wieder zurück an sein Laptop, um Passagen des eben Gespielten als Loop einzurichten, zu dem das was folgt dann in diametralem Gegensatz steht: Auf Geräusch folgen lang gezogene Töne, darauf platzende Staccati, wobei Estoppey sich an verschiedenen Stellen immer wieder der Tafel nähert. Am Ende intoniert er dann doch, eher nachdenklich, das ursprünglich von dem Komiker Robert Steidl 1922 zum Kölner Karneval geschriebene Lied „Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen“, so als mache er sich Gedanken um den Geisteszustand des Besuchers, der ausgerechnet diese Melodie an die Tafel geschrieben hat.
Zwei Tage später ist Estoppey mit dem ensemBle baBel nebenan im Kammertheater, um vier Werke Marclays zu interpretieren. Die „Graffiti Composition“ funktioniert ähnlich wie „Chalkboard“, nur dass Poster im öffentlichen Raum Berlins zum Mitkomponieren einluden. Dem 2005 von Steve Beresford mit neunköpfigem Ensemble uraufgeführten und später mehrfach verschiedenen Besetzungen von Elliott Sharp eingespielten Werk ist in Stuttgart allerdings, da die Partitur nicht zu sehen ist, die Entstehung nicht anzumerken. Die fünf Musiker sind rund ums Publikum verteilt: je zwei vorn rechts und links auf der Bühne, beidseits der Zuschauerränge und zuletzt hinten unter den Sitzreihen. Wie sie sich zeitlich abstimmen, ist nicht zu ersehen. Es klingt nach improvisierter Musik, auf hohem Niveau.
Die zwei Video Scores wiederum funktionieren ähnlich wie das „Video Quartet“, das bis dato im Stuttgarter Kunstmuseum zu sehen war. Kombiniert Marclay dort Filmszenen, die Musik darstellen, auf vier nebeneinander angeordneten Videoleinwänden, so ist bei „The Bell and the Glass“ die Leinwand horizontal zweigeteilt: wie in Marcel Duchamps Werk „The Bride Stripped Bare by her Bachelors, Even“ im Philadelphia Museum of Art, welches das Werk in Auftrag gab. Marclays Ausgangspunkt war, dass die Liberty Bell, ebenfalls in Philadelphia, einen Riss hat und nicht mehr klingt. Duchamps Werk, auch „The Large Glass“ genannt, da die Bildmotive aus Lack, Farbe, Bleifolie und -draht zwischen zwei hohe Glasplatten gepresst sind, hat ebenfalls einen Sprung. Diese Koinzidenz setzt eine abgründige Kettenreaktion zum Verhältnis von Bild und Ton in Gang.
Genussvoll dekonstruiert Marclay die hohen Bedeutungsebenen, indem er Duchamp selbst in einem Film präsentiert und – auf den Spuren von Jean Déromes „Le trésor de la langue“ – die Sprachmelodie seiner Rede ausnotiert. Oder indem er einen Blick in eine Schokoladefabrik wirft: Oben tropft ein brauner Faden aus einem Hahn, unten wird die Liberty Bell serienweise in Stanniolfolie eingeschlagen. Wie im „Video Quartet“ nutzt Marclay das ganze Repertoire der großen Gesten des Hollywood-Kinos: Fäuste fliegen, Münder ziehen sich an wie Magneten, Schauspielerinnen lassen ihre Hüllen fallen. Im Dialog zwischen Bild und Ton, oberer und unterer Hälfte der Leinwand ergeben sich hinreißend komische Effekte. Ein Akteur schnappt unten eine Strickleiter, oben klettert Romeo über das Balkongeländer, um Julia in die Arme zu schließen. Taumelt oben einer und stürzt, kommt er im nächsten Moment unten hart auf. Oder taucht zum Klang eines Beckenschlags in den Ozean ein: Die Aufgabe des Ensembles ähnelt in Teilen der Untermalung von Stummfilmen.
Nach der Pause beginnt es mit einem Kartenspiel. Die fünf Musikerinnen und Musiker sitzen um einen Tisch. Eine deckt vor den vier anderen Karten mit Fotos auf, die aus dem Museumsshop stammen könnten: Sie zeigen Noten auf Teetassen und T-Shirts, in der Werbung oder als Tattoo, welche die Interpreten dann so lange vom Blatt spielen, bis die Geberin sie umdreht, eine neue darauf oder daneben legt oder den Satz beendet. Woraufhin der Nächste mit dem Austeilen an der Reihe ist. Das Stück spielt mit der Doppelbedeutung des Titels „Shuffle“, der sowohl das Mischen der Karten als auch einen Triolen-Bluesrhythmus mit Offbeat-Betonung bezeichnen kann.
In der zweiten Video-Partitur „Screen Play“ kombiniert Marclay gefundenes Filmmaterial in Schwarzweiß mit Linien und Punkten in kräftigen Farben, die auch als Notenmaterial interpretiert werden können. So vollführt etwa eine junge Frau durch eine waagrechte Reihe von fünf Notenlinien einen Rückwärts-Flickflack mit abschließendem Salto. Einmal mehr geht es nicht zuletzt um die den Filmszenen innewohnende Dramatik: den Suspense beim Öffnen einer Tür; die weit aufgerissenen Augen und vor den Mund gezogenen Hände in Momenten panischer Angst; die Beschleunigung, wenn ein Cowboy durch eine zerklüftete Berglandschaft flieht, in immer engeren Haarnadelkurven auf dem Hinterhuf wendend, während die größer werdende Schar der Verfolger immer steilere Abhänge hinabrutscht. Gelbe Punkte durchlöchern die Leinwand wie eine Zielscheibe: Estoppey interpretiert diese als explosive Schmatzgeräusche.