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Planschen. Foto: © SWR / Birgit Nockenberg
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Der Stachel fehlt – Abtauchen bei den Donaueschinger Musiktagen 2019

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So viele Terzen und Sexten, so viele Dur- und Mollakkorde wie in diesem Jahr waren vielleicht noch nie zu hören auf diesem Avantgarde-Festival. Jedenfalls geht es im Jahr 2019 mehr um Musik als um Konzepte, mehr um das Hören als um das Nachdenken, mehr um die Vergangenheit als um die Zukunft. Unserem Kritiker Georg Rudiger fehlte da gleichwohl ein wenig der musikalisch-politische Stachel.

Geplanschtes und Verräumtes

„Physiotherapie, Krankengymnastik, medizinische Bäder, Massagen“ steht auf dem Hinweisschild. Die Suche nach Kirsten Reeses Klanginstallation „Neglou“ führt über lange Gänge und einige Treppen. Die Donaueschinger Musiktage hatten schon in der Vergangenheit ungewöhnliche Spielstätten. Neue Musik wurde bereits in die Fürstenbergbrauerei und das Flüchtlingswohnheim in der ehemaligen französischen Kaserne gebracht. In einem Hallenbad wie dieses Jahr in der Reha-Klinik Sonnhalde war das Neue-Musik-Festival bislang aber noch nie. Schon in der Umkleidekabine tönt es angenehm aus Lautsprechern. Dann geht man frisch geduscht in Badehose zum Ort des Geschehens. Der Blick durch die großen Fenster fällt auf grüne Wiesen und bunte Laubbäume. Im Wasser treiben sechs Konzertbesucher und fünf Lautsprecher. Ein Trompeter im gelben Bademantel schreitet am Beckenrand entlang und spielt ein paar Töne, die sich gut in den wohligen Elektrosound einfügen, der den Raum beschallt. Dann noch eine Schwimmnudel geschnappt – und das Abtauchen in Reeses Klangwelten kann beginnen. Es klickt und plätschert, rauscht und klingt. Den Gesang der Wale und die Laute von Seehunden hat die Komponistin elektronisch bearbeitet. Aber auch Wohlfühlharmonien und entspannte Beats sind zu hören. Alles fließt. Ab und zu wird draußen vor dem Fenster ein Gong angeschlagen. Auch der Trompeter steigt einmal ins Bad und hält auch mal sein Instrument ins Wasser. Den Hörraum bestimmt man selbst. Einfach treiben lassen und den Kopf mal unter, mal über das Wasser halten. Die Klänge verändern sich – wirken unter Wasser näher und direkter. Kein Nebengeräusch stört. Nach 30 Minuten beginnt das Werk von neuem. Und man verlässt leicht frierend, aber zumindest tiefenentspannt das 30 Grad warme Wasser.

Der Raum spielt beim diesjährigen Festivaljahrgang eine wichtige Rolle. Damit sind nicht nur ungewöhnliche Spielorte wie eine Hotelbar (in der Installation „Donauparadies“ von Aliénor Dauchez, Michael Rauter und Bastian Zimmermann) gemeint, sondern auch die Betonung des Raumklangs bei vielen der insgesamt 20 Uraufführungen. Die starken politischen Themen und Impulse der letzten Festivaljahrgänge sind 2019 nicht zu entdecken. Der Stachel fehlt. Außerdem scheint es, dass der theoretische Überbau der Neuen Musik langsam verschwindet. Es gibt keine Dogmen und keine Tabus mehr, sondern im besten Fall Pluralität, die aber auch in Beliebigkeit oder Belanglosigkeit abdriften kann. So viele Terzen und Sexten, so viele Dur- und Mollakkorde wie in diesem Jahr waren vielleicht noch nie zu hören auf diesem Avantgarde-Festival. Jedenfalls geht es 2019 mehr um Musik als um Konzepte, mehr um das Hören als um das Nachdenken, mehr um die Vergangenheit als um die Zukunft. „Noch nie war die Neue Musik so vielfältig und lebendig wie heute“, konstatiert Festivalleiter Björn Gottstein. Und möchte „neue Wege des Hörens einschlagen“.

Rückblicksbeschäftigung

Man beschäftigt sich in diesem Festivaljahrgang jedenfalls lieber mit Rückblicken als mit Visionen. Für „Remember me“ hat Gordon Kampe musikalische Erinnerungen zusammengetragen – von „Maikäfer flieg“ bis „O sole mio“. Nostalgische Momente, die von den Mitgliedern des Hamburger Ensembles Resonanz im Bartók-Saal der Donauhallen beschworen, aber auch in wilden Streicherattacken zerfetzt werden. Eine echte Verbindung zwischen beidem entsteht aber nicht. Auch Nicole Lizées „Sepulchre“ ist ein ungewöhnlich retrospektives, in seiner Machart fast poppiges Werk, das von den trockenen, schnellen Beats des formidablen Schlagzeugers Boris Müller mit einem treibenden Groove unterfüttert wird. Die Komponistin hat sich vom Charme ausrangierter Elektrogeräte inspirieren lassen und daraus eine repetitive, energiegeladene Musik mit vielen tonalen Anklängen komponiert. Mark Andres „rwh 1“, das sich im gleichen Konzert mit Unterstützung des SWR Experimentalstudios Freiburg dem musikalischen Verschwinden widmet, schlägt eine ganz andere Ästhetik an. Hier ist keine einzige Konsonanz zu hören, sondern fragile Cluster, gehauchte Flageoletts und auch heftige Ausbrüche, denen Raum zum Nachklingen gegeben wird.

Durchgeknalltes mit und ohne Boden

Das Klangforum Wien hat unter Sylvain Cambreling Alberto Posadas’ großartige, 90-minütige „Poética del espacio“ mitgebracht. Zu Beginn des in fünf Abschnitte und vier Intermezzi gegliederten Werks ist das erstklassige Ensemble in zwei Gruppen aufgeteilt, die sich über die gesamte Länge des Mozart-Saals gegenüberstehen. Zwischen den Streichern und dem Akkordeon auf der Bühne und den Blechbläsern und dem Fagott hinten im Raum entsteht eine feine Kommunikation. Die tastende Materialerkundung entwickelt sich zum faszinierenden Klangfarbenspiel. Der musikalische Reichtum der Komposition ist immens, die Aufstellung der Musiker verändert sich. Das Werk entfaltet Atmosphäre und Virtuosität im Abschnitt „Umbrales evanescentes“, der Saxofon, Horn, Trompete und Posaune, häufig mit Dämpfer gespielt, auf ganz besondere Weise miteinander in Beziehung setzt. Auch in Michael Pelzels „Mysterious Bells“ für Orchester mit Elektronik (SWR Experimentalstudio) ist das SWR-Symphonieorchester am Freitagabend in mehreren Gruppen in der Baar-Sporthalle verteilt. Glissandi ziehen dem Hörer den Boden unter den Füßen weg. Irisierende Klangflächen treffen auf extreme Tutti-Impulse, die leider nicht immer zusammen sind (Leitung: Emilio Pomárico). Matthew Shlomowitz‘ „Glücklich, Glücklich, Freude, Freude“ ist ein reichlich durchgeknalltes, eklektisches, überdrehtes Orchesterstück mit Comicsound, romantisch-kitschigen Einsprengseln im Hörnerchor und rasend-kreischendem Synthesizer (Mark Knoop). Am Ende sorgt Meeresrauschen und Möwengeschrei für ironisch gebrochene Glücksgefühle.

Humor in virtuosen Collagen

Humor spielt auch – und das ist durchaus nicht Tradition bei den Donaueschinger Musiktagen – eine entscheidende Rolle bei Simon Steen-Andersens TRIO, das das Symphonieorchester, die Bigband und das Vokalensemble des SWR erstmals gemeinsam auf die Bühne bringt. Der dänische Komponist hat das Fernseharchiv des Senders durchforstet und unzählige Schnipsel zu einer virtuosen Collage montiert. Ein C-Dur-Akkord vom alten Südfunkorchester Stuttgart auf der Leinwand wird zu Beginn vom im Saal postierten SWR Symphonieorchester beantwortet. Der Akkord wechselt, scharf abgeschnitten, zwischen Leinwand, Orchester, Chor und BigBand. Die drei Dirigenten Emilio Pomárico, Michael Alber und Thorsten Wollmann haben einen Clicktrack im Ohr, um den unerbittlichen Puls weiterzugeben. Auch musikalisch arbeitet Steen-Anderson mit Schnipseln – von Webers „Freischütz“ über Beethovens „Eroica“ bis Strawinskys „Le sacre du printemps“. Nur Händels Oratorium „Israel in Egypt“ wird vom Chor länger zitiert. Zitate vom jungen und alten, gleichermaßen grimmig schauenden Sergiu Celibidache und vom ganz jungen, beseelten Carlos Kleiber werden virtuos vom Chor übernommen und musikalisiert. „Weg weg weg“ wird genauso zum Motiv wie „Zu hoch, das A“. Die Präzision der Aufführung, die Bild und Ton, Sprache und Gesang, Digitales und Analoges handwerklich perfekt und mit viel Humor zusammenmixt, ist ein Ereignis. Für das Ende hat Steen-Anderson sogar noch O-Töne von Michael Gielen zu den Donaueschinger Musiktagen gefunden, ehe ein Zusammenschnitt von Applaus-Szenen den realen Beifall vorwegnimmt.

Beeindruckendes musikalisches Niveau

Rund 10.000 Besucher erlebten die 20 Uraufführungen und sechs Klanginstallationen, die Workshops und Vorträge. Mit der Performance „Das Festival“ von Melanie Mohren und Bernhard Herbordt wurde auch erstmals ein Programm für Kinder (Kristina Pantisano) angeboten. Das musikalische Niveau der Interpretationen war beeindruckend. Sowohl das Klangforum Wien als auch das Ensemble Resonanz, das sein Debüt beim Festival feierte, überzeugten mit Präzision und hoher Klangsensibilität. Auch das Ensemble intercontemporain legt bei seinem Konzert am Sonntagmorgen im Bartók-Saal der Donauhallen unter der souveränen Leitung von Matthias Pintscher einen ganz starken Auftritt hin. Beat Furrers Perpetuum-Mobile-Satz aus seinem neuen Konzert für Klarinette und Ensemble spielt Ensemblemitglied Martin Adámek mit spielerischer Virtuosität. Die raffinierte Klanglichkeit und hohe Reizdichte in Nina Senks „T.E.R.R.A. II“ und Pierre-Yves Macés „Rumorarium“ wird durch das feinnervige Spiel des von Pierre Boulez gegründeten Spitzenensembles zum Ereignis. Auch das SWR-Symphonieorchester zeigt bei seinen beiden Konzerten große Qualitäten. Es lag jedenfalls nicht an diesem Klangkörper, dass das Abschlusskonzert am Sonntagabend unter der Leitung von Tito Ceccherini in der Baar-Sport-Halle insgesamt enttäuschte. Eva Reiters „Wächter“, für das das Orchester auf sein gewohntes Instrumentarium verzichtet und zu selbstgebauten Rohren greift, die über dem Kopf geschwungen werden, entwickelt aus einfachsten Materialien komplexere Klänge (Paetzold-Flöten: Eva Reiter, Susanne Fröhlich). Lidia Zielinskas „Klangor“ begibt sich auf Klangsuche nach den Kranichen. In Saed Haddads „Melancholie“ für chromatische Mundharmonika (Hermine Deurloo) wird auf jede moderne Klanglichkeit verzichtet, sondern nur noch in vertrauten Gefilden hart an der Kitschgrenze komponiert. Das an Filmmusik von Ennio Morricone erinnernde Werk tut niemandem weh. Regelrecht einschläfernd in seiner neuen Einfachheit à la Arvo Pärt ist Jürg Freys „Elemental Realities“. Je ruhiger das Stück wird, je belangloser die Akkordwechsel anmuten, desto unruhiger wird das Publikum, das am Ende kräftige Buhs austeilt, ehe der Cellist Markus Tillier den Preisträger des Orchesterpreises mitteilt: Simon Steen-Andersen für „TRIO“.


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Berichte von Alexander Strauch

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