„Ist reich das Gegenteil von arm?“, fragt das Theater Münster im Motto zur Spielzeit 2024/25 und beantwortet diese Frage unter anderem mit einem satten Leistungsbeweis. Gordon Kampes Oper „Sasja und das Reich jenseits des Meeres“ nach dem Roman von Frida Nilsson erweist sich in einer Vormittagsvorstellung als Stück mit hohen philosophischen Ansprüchen in einer vitalen und bestens herausfordernden Wiedergabe. Eine beglückende Uraufführung und Familienoper-Sternstunde über Leben und Tod.
Der Tod als Dandy: Die Uraufführung von Gordon Kampes packender Familienoper „Sasja“ am Theater Münster
Gordon Kampe (geb. 1976) ist derzeit überaus gut im Geschäft. Deshalb greift er, der in seinen Partituren die Neigung zu großer instrumentalen Opulenz nicht verleugnet, manchmal zu heute als verwegen betrachteten Mitteln. So in seiner am 10. November 2024 im Theater Münster uraufgeführten Oper „Sasja und das Reich jenseits des Meeres“ nach dem Roman der schwedischen Bestseller-Kinderautorin Frida Nilsson und zu deren verschrobenen, originellen, philosophischen Figuren. Obwohl als Familienstück, Weihnachtsmärchen und damit Schulvorstellung konzipiert, lässt Kampe sein Zweistundenopus im Mezzopiano beginnen. Damit riskiert er – wie in der rammelvollen Vormittagsvorstellung am 17. Dezember – das Untergehen der Musik im aufgewecktem Palaver des jungen Publikums. Sehr schnell lässt sich dieses innerhalb weniger Minuten von der keineswegs niederschwelligen Story und ihrer Bühnenrealisierung in Bann schlagen. Insofern ist „Sasja“ in der Regie von Sebastian Bauer ein ideales Exempel dafür, dass Kinder U12 sehr wohl Metaphern, Abstraktionen, Symbole angemessen gut verstehen und geistig Werke knacken, welche über die Dauer einer Schuldoppelstunde hinausreichen. Vorausgesetzt natürlich, dass musikdramatischer Gehalt, ästhetische Substanz und Geistfutter dafür tragfähig genug sind. Diese Voraussetzungen stimmen bei Kampe, in Carina Sophie Eberles Textbuch und in der agilen Ensembleleistung ideal.
Yeaseul Angela Park wirkt als Junge Sasja durch ihr hochenergetisches Spiel und Kathrin Krumbeins Kostüme doch recht androgyn. Seine Story hat es in sich und könnte Helikopter-Eltern verstören. Sasjas Mutter Semilla stirbt und so macht er sich wie ein anderer Orpheus oder eine andere Savitri auf, um diese dem Totenreich bzw. dem Tod zu entreißen. Schwerer noch wiegt, dass Semilla ihn nicht vergessen soll nach dem Wandel vom Leben zum Tod, in dem alles gleich und doch nicht ganz gleich ist wie im irdischen Leben. Kampe scheut keine langen Szenen in seiner Oper, welche durch Dauer und Themenschwere weit über die Herausforderungen von Familienopern wie „Hänsel und Gretel“ oder Peter Leipolds auch groß gedachtem „Mio, mein Mio“ hinausgreift. Kampe riskiert auch, auf die Affekte seiner Komposition vertrauend, wenig textverständliche Melodien. Im Zuschauerraum ist es dazu nie hundertprozentig still, aber Spannung und Aufmerksamkeit sind immens. Nur nach dem Schlussapplaus kommt die vorsorgende Didaktik-Effizienz-Masche wieder zum Zug. Was die jungen Schülerinnen und Schüler als thematisch-moralischen Mehrwert mitnehmen würden, fragt Dramaturgin Angela Merl mit Mikro in den Saal und fordert damit ein Résumé, was nach einem solchen Stück auch erwachsenen Publikumsroutiniers schwerfallen würde.
Kampes beglückend schillernde, pulsierende und perkussive Musik flacht nur im Totenreich kurz ab, wenn „Lustige Witwe“- und „Ring des Nibelungen“-Zitate eine Nuance zu bloßgestellt aus der sonst sehr arios, farbreich, extrovertiert komponierten Partitur heraus blecken. Kampe denkt dialektisch. Insofern haben Sasjas neue Freundschaften und Begegnungen auf dem Weg zum Tod immer mehr musikalische Glückshormone, bis er die Komposition in der entscheidenden Szene Sasjas mit der Mutter Semilla (Adele Vorauer) deklamierend auskargt. Die namentlichen Bezüge zur altgriechischen Mythologie geraten in Kampes-Nilssons „Sasja“ so sinnstiftend wie in Shakespeares „Mittsommernachtstraum“. Sebastian Bauer lässt in seiner Inszenierung das Münsteraner Ensemble gestisch sinnfällig agieren. Er vermeidet kindertümelnde Übertreibung und Verniedlichung. Vom Beginn mit der später wieder auftauchenden Andeutung eines Einfamilienhauses aus Neonstäben arbeitete Katja Simon für die diesseitigen und jenseitigen Reisestationen Sasjas mit symbolkräftigen Materialien durchgängig mehrschichtig. Mit Folien und einer zerfallenden Torte wie vom Pop-Art-Skulpturisten Claes Oldenburg verweigerte sie erklärende Bilder da, wo die Figurenkonstellation einerseits den „Zauberer von Oz“, andererseits den Tröster Tod in Hans Christian Andersens „Geschichte von einer Mutter“ streift. Im beglückenden Gegenentwurf zum zeigefingernden Verflachungstheater wird der Bass Oscar Marin-Reyes als flamboyanter Dandy und männliche Mary Poppins zum Star: Der Tod als Entertainer, Menschenversteher und Herr eines emotionalen Schlaraffenlandes. Charakterstarke Figuren stehen auf Sasjas Weg dorthin: Benjamin Park als ihr Fast-Alter-Ego Trine Tvefot, Soraya Abtahi (Prinzessin von Sparta), Ramona Petry (Höder von Harpyrien), Ramon Karolan (Kapitän), Elena Sverdiolaité (Königin von Sparta) und Yixuan Zhu (Vignmor). Thorsten Schmid-Kapfenburg, selbst Komponist, reizte das Sinfonieorchester Münster nach dem eher kammermusikalisch gedämpften Beginn zu satten Wogen und kristalliner Gischt. Kampes Partitur verführt zu hohen Lautstärken und philharmonischen Klangbädern ohne Hemmungen. Auch das ist für das Publikum von morgen wichtig: Musiktheater als Summierung von dem, was es bei Netflix in dieser Direktheit nicht gibt. Diese Uraufführung kommt ohne geschwätzige Video-Zutaten aus und vertraut gezielt auf die intelligible Begabung seines jugendlichen Publikums. Der Applaus war kurz, die Begeisterung im Foyer hinterher riesig.
- Share by mail
Share on