Die großen Debatten in der Musik, auch die großen Kräche gehören der Vergangenheit an. Spektakuläre Vatermorde, wie sie Pierre Boulez mit seinem Satz „Schönberg est mort“ intendierte, finden nicht mehr statt. Rainer Pöllmann, Musikredakteur beim DeutschlandRadio, empfindet dies als Mangel. Seiner Meinung nach sind Generationskonflikte unvermeidlich. Nur durch einen symbolischen Vatermord könne eine jüngere Generation zu Eigenem vordringen und die „überschwere“ Last der Vergangenheit abschütteln. Durch eine Podiumsdiskussion ausgerechnet unter dem plakativen Titel „Die jungen Wilden?“ wollte er die seiner Ansicht nach zu stillen Vertreter der neuen Komponistengeneration zu zorniger Selbstfindung provozieren.
Wie eigentlich voraussehbar, blieb alles Sticheln des Moderators gegen die „Veteranen der Avantgarde“ und gegen das Establishment vergeblich. Die Komponisten Orm Finnendahl, Gösta Neuwirth, Enno Poppe und Stephan Winkler (der ebenfalls geladene Matthias Pintscher hatte kurzfristig abgesagt) ließen sich nicht provozieren. Auch angesichts der auf dem Podium aufgebauten Radiomikrophone waren sie nicht bereit, der Presse ein griffiges Etikett zu liefern. Nicht einmal die harmlose Bezeichnung „Junge Komponisten“ fand einhellige Zustimmung. Der 1967 in Görlitz geborene Stephan Winkler, zunächst Schüler Ruth Zechlins und später Assistent Hans Werner Henzes, hat das Alter nie als relevant empfunden. Gösta Neuwirth, mit 62 Jahren der älteste auf dem Podium, fühlt sich durch diese Kategorie an Umwälzmechanismen der Warenwelt erinnert. Wichtiger sei, wie er am eigenen Beispiel belegt, das Aufarbeiten der Geschichte, die Aneignung der Vergangenheit. Komponisten wie Schönberg und Schreker waren in Neuwirths Jugend noch tabuisiert. Solche Tabus existieren heute, wie Enno Poppe (Jahrgang 1969) unterstreicht, nicht mehr. Die Gesetze des Erlaubten setzt er sich selbst. Keineswegs aber empfinde er, wie vom Moderator suggeriert, die Tradition als Belastung. „Es ist vielmehr ein Reichtum an ästhetischen Reizen.“ Orm Finnendahl leitet seit kurzem jenes Institut für Neue Musik an der Berliner Hochschule der Künste, wo die Diskussion stattfand. Er gibt zu, daß er gegenüber seinen Vorgängern einiges verbessern möchte, etwa die Kooperation mit anderen Künsten. „Das ist aber keine Revolte.“ Neuere Tendenzen zum Crossover und zu Klanginstallationen sieht er als einen von Generationskonflikten unabhängigen Stilwandel. Probleme mit den „Vätern“ gebe es nicht, eher schon Orientierungsprobleme. Winkler stimmt dem zu. Das Problem des heutigen Pluralismus sei Orientierungslosigkeit. In der DDR sei das anders gewesen. Er selbst wende sich deshalb inzwischen wieder Aspekten einer gesellschaftlich nutzbaren Musik zu und sei dabei auf Techno gestoßen. Entschieden lehnte er aber ab, als der Moderator ihn rasch in die „Techno-Generation“ einordnen wollte: „No generation, please!“ Durch die Fixierung auf die Generationsfrage fiel der interessante Aspekt der Publikumsorientierung leider unter den Tisch. Hier hätte es, wie auch aus Bemerkungen von Gösta Neuwirth hervorging, durchaus Diskussionsstoff gegeben. War der Protest von Boulez und Stockhausen gegen Hindemith primär eine Generationsfrage, wie der auf diesem Aspekt insistierende Rundfunkredakteur meinte? Neuwirth bestreitet dies. Es sei eher eine Orientierung am Markt gewesen, eine Frontstellung gegen das bisherige Musikleben. Im Visier hatte man damals auch Testamentsvollstrecker der Wiener Schule wie Ernst Krenek, Rudolf Kolisch und Eduard Steuermann, weil sie von der Idee der Kontinuität besessen waren. Auch hinter dem Auftreten der in den siebziger Jahren mit dem Etikett „Neue Einfachheit“ versehenen Komponisten sieht Neuwirth eher Markt- als Generationsfragen. Gegen biologische Argumentationen ist er schon lange allergisch. Auch die neue Polemik von Steffen Mahnkopf beruht für ihn auf falschen Voraussetzungen, da „Väter“ wie Helmut Lachenmann heute keine vergleichbare institutionelle Macht innehaben wie früher Schönberg oder Boulez. Einen Paradigmenwechsel im Musikschaffen gebe es heute nicht durch den Wechsel der Generationen, sondern eher durch Veränderungen der Technologie. Einen Grund für das Ausbleiben neuer Protestwellen sieht Orm Finnendahl in der Aufsplitterung der Macht. Zu den nicht mehr richtungsweisenden, sondern oft hilflos programmierten Festivals von Darmstadt und Donaueschingen existierten inzwischen viele Alternativen. Nach dem Ende der Hierarchien könne es deswegen auch keine klaren Fronten mehr geben. Soll man etwa gegen den Pluralismus insgesamt protestieren? Und was ist überhaupt „Wildheit“? Eine Annäherung an die Popkultur wie bei den britischen Komponisten und Interpreten Turnage und Kennedy? Die Medien suchen, so Enno Poppe, auffallende und verkaufsfördernde Attitüden, vielleicht auch die Hörer. Ihm selbst gibt dagegen das Fehlen von Schubladen die Chance zu ausdifferenziertem Komponieren. Das kalkulierte und reflektierte Wilde ist ohnehin, so Neuwirth, nicht mehr wild zu nennen. Jemand aus dem Publikum versuchte, die Diskussion anzuheizen, indem er auf den angeblich dramatisch gesunkenen Stellenwert der musikalischen Fraktion innerhalb des Kulturbetriebs verwies. „Die Literatur und die Malerei hat sich von der Neuen Musik längst verabschiedet und sich der Popkultur der DJs zugewandt.“ Aber auch solche „Provokationen“ förderten eher das freundliche Einverständnis der Komponisten auf dem Podium. Stellt nicht, so Enno Poppe, die Neue-Musik-Szene als Ganzes eine Gruppe von Individuen dar? Eine zusätzliche Gruppierung oder Sezession wird da als überflüssig empfunden. Die früher einmal musikimmanenten Fronten liegen heute, so Orm Finnendahl, zwischen Musikszene und dem Rest der Welt. „Der Komponist arbeitet in einer als feindlich empfundenen Umwelt. Seine Feinde sind aber nicht die anderen Komponisten. Von einer notwendigen, ja überfälligen Diskussion hatte Rainer Pöllmann einleitend gesprochen. Seine Annahme eines untergründig schwelenden Generationenkonflikts hat sich als falsch erwiesen. Vatermorde sind offenbar nicht biologisch vorprogrammiert, sondern – wenn sie stattfinden – durch Geschichte vermittelt. Erwünscht scheinen Diskussionen über andere Themen, etwa über den Stellenwert der Neuen Musik in unserer Gesellschaft. Ist die von Adorno gepredigte Verweigerungshaltung immer noch aktuell? Vielleicht sind solche Fragen, auch die nach der Stellung zu den anderen Künsten und zum Werkbegriff, für die jüngeren Komponisten entscheidender als die nach ihren Vätern.Hauptrubrik
Der Vatermord findet nicht statt
Untertitel
Zu einer Podiumsdiskussion beim Berliner UltraSchall-Festival
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