Wir leben in einer Zeit der Jahres-, Gedenktage und Jubiläen – denn nur was durch einen irgendwie gearteten „Höhepunkt“ markiert wird, wird überhaupt noch wahrgenommen. – Die Anzahl der Komponistinnen, die in den Konzertprogrammen der Welt vorkommen, ist verschwindend gering. Also muß (dringend notwendig!) ein „Event“ gebaut werden, das Aufmerksamkeit für Komponistinnen erzeugt. Ein einzelnes Konzert mit 53 Uraufführungen scheint da angemessen. In Braunschweig wurde das Projekt „Diabelli Recomposed“ von (noch eine große Zahl:) 10 Pianistinnen zum ersten Mal zu Gehör gebracht. Ein toller und voller Erfolg!
„Diabelli Recomposed“ in Braunschweig mit 53 Uraufführungen von Komponistinnen
Das ist absolut rekordverdächtig! 53 Uraufführungen von Werken, die ausschließlich von Komponistinnen geschaffen worden sind, aufgeführt durch zehn Pianistinnen in einem Konzert – so geschehen kürzlich in Braunschweig. – Zurück zum Anfang: Manche Kompositionsprojekte und die daraus entstehenden Konzerte schreiben schon ohne die ihnen innewohnende Musik Musikgeschichte. In Coronazeiten – wo viele Dinge brach lagen und viele Menschen plötzlich viel Zeit hatten – hatte die Braunschweiger Pianistin und Musikwissenschaftlerin Claudia Bigos die Idee, das Projekt „Diabelli Recomposed“ ins Leben zu rufen. Bigos hatte sich schon lange mit dem Thema „Verkannte und vergessene Komponistinnen in der Musikgeschichte“ beschäftigt. Die Tatsache, dass der weibliche Anteil in Konzertprogrammen weltweit bei „lediglich 2% liegt“, ist für „entschieden zu wenig“. Also erdachte und realisierte sie ein Konzert mit 100% weiblicher Beteiligung. Drei Jahre haben die Vorbereitungen dazu in Anspruch genommen.
Für „Diabelli Recomposed“ hat Bigos weltweit Komponistinnen gebeten, sich das Walzerthema von Anton Diabelli vorzunehmen und zu diesem je eine eigene Variation in ihrem eigenen Stil zu schreiben. Weitere Vorgaben hat sie nicht gemacht. Jede der Komponistinnen konnte sich so selbst darstellen und ihre ganz persönlichen Kompositionsweise ausleben. Diese Idee traf auf positive Resonanz. 53 Kompositionen wurden eingereicht, die Kasseler Musikverlegerin Renate Matthei (Furore-Verlag) sagte sehr schnell „Da machen wir etwas Schönes draus!“ und zahlreiche Spender, Sponsoren und Freiwillige haben Bigos bei diesem Vorhaben unterstützt. Vor wenigen Tagen wurden nun alle diese Kompositionen von zehn Klavier-Studentinnen der Klasse von Prof. Ewa Kupiec aus Hannover, im Braunschweiger Staatstheater gemeinsam uraufgeführt. Das Projekt ist ein reines Frauenprojekt – nur ein Mann war immer dabei: Anton Diabelli.
Die Vorgeschichte dazu ist schnell erzählt: Der Wiener Komponist und Musikverleger Diabelli schrieb Anfang 1819 einen 32taktigen Walzer. Dieses Walterthema übergab er an Komponisten aus Österreich und Böhmen („vaterländische Tonkünstler“) und bat sie um je eine Variation zu seiner Vorlage. Die meisten der angesprochenen Komponisten (und es waren ausschließlich Männer) lebten in Wien oder der direkten Umgebung. Aus den neuen Kompositionen sollte in seinem gerade gegründeten Musikverlag Cappi & Diabelli dann ein Sammelband mit allen diesen Kompositionen herausgegeben werden.
Aufgrund seines Aufrufes bekam Diabelli von 50 Komponisten Variationen zugesandt. Sie alle hielten sich (fast sklavisch) an die Vorlage, boten aber durchaus auch sehr eigene Ideen an, die aber naturgemäß alle dem Kompositionsstil der Wiener Klassik zutiefst verhaftet waren. Böse Zungen könnten behaupten, dass sich beim Zuhören einer Gesamtaufführung ob der großen Einheitlichkeit der Einzelkompositionen langsam Ermüdungserscheinungen einstellen könnten. Immerhin waren aber unter den Tonsetzern solche, deren Namen in der Musikgeschichte bis heute nicht vergessen worden sind, etwa Carl Czerny, Johann Nepomuk Hummel, Conradin Kreutzer, Franz Liszt, Ignaz Moscheles, Franz Xaver Mozart und Franz Schubert. Ludwig van Beethoven beteiligte sich nicht an dem Gemeinschaftsprojekt und schrieb seine eigenen „33 Veränderungen op. 120“, die auch bei Cappi & Diabelli verlegt wurden.
Zurück nach Braunschweig. Auf die Frage, warum denn nur Komponistinnen an diesem Projekt teilnehmen durften und auch die Uraufführungen nur von Frauen gespielt worden sind, antwortet Bigos: „weil Frauen dieselben Rechte haben, wie Männer.“ So einfach ist das! Die Musikwissenschaftlerin Eva Rieger hat es in einem anderen Zusammenhang etwas sachlicher formuliert: „Der männlich dominierte Kanon ist festgeschrieben und institutionalisiert, das Publikum möchte Bekanntes hören. Die Konzertführer prägen die Wahrnehmung der Konzertbesucher, die ohnehin konservativ eingestellt sind. Die Musik von weissen, westlichen Männern behauptet sich weiterhin in den Konzertsälen und Opernhäusern.“ Rieger sieht aber eine große Chance darin, einen weiblichen Kanon zu schaffen, der derzeit noch ein weißes Blatt Papier ist. Bigos hat mir ihrem Diabelli Recomposed mitten auf diesem weißen Blatt Papier einen Akzent gesetzt und 53 Namen eingetragen, die man vorerst (den Rest entscheidet die Zeit, die Geschichte) nicht vergessen sollte.
53 Komponistinnen aus 22 Ländern haben sich an Diabelli Recomposed beteiligt, die jüngste unter ihnen war zur Zeit der Notenabgabe 12 Jahre alt (Schuppenhauer), die älteste über 90 Jahre (Keusen-Nickel), Siegrid Ernst ist in der Projektphase verstorben und konnte ihre Uraufführung leider nicht mehr erleben: Marie Awadis (Armenien, Libanon, Deutschland), Emanuela Ballio (Italien), Marina Baranova (Ukraine, Deutschland), Victoria Bond (USA), Carmen Maria Cârneci (Rumänien), Daria Cheikh-Sarraf (Deutschland, Polen, Iran), Michaela Dietl (Deutschland), Violeta Dinescu (Rumänien, Deutschland), Asia Dojnikowska (Polen), Giovanna Dongu (Italien), Siegrid Ernst (Deutschland), Carlotta Ferrari (Italien), Susanne Hardt (Deutschland), Jessi Harvey (USA), Dorothea Hofmann (Deutschland), Sophia Jani (Deutschland), Justina Jaruševičiūtė (Litauen, Deutschland), Lydia Kakabadse (Großbritannien), Armenuhi Karapetyan (Armenien), Ursula Keusen-Nickel (Deutschland), Catherine Kontz (Großbritannien, Luxemburg), Géraldine Kwik (Frankreich), Leorah P. (Schweiz, Israel), Sharon Lynn Makarenko (Kanada), Laura Manolache (Rumänien), Zela Margossian (Libanon, Australien), Maryna Matviienko (Ukraine), Barbara Mayer (Deutschland), Ulrike Merk (Deutschland), Anamaria Meza (Rumänien), Conchi Muna (Spanien, Deutschland), Janet Oates (Großbritannien), Karola Obermüller (Deutschland, USA), Jane O’Leary (USA, Irland), Sheena Phillips (Großbritannien, USA), Agnes Ponizil (Deutschland), Anna Rubin (USA), Florence Sabeva (Deutschland), Elena Samarina (Russland), Dorothee Schabert (Deutschland), Catherine Schuppenhauer /Deutschland, Österreich), Julia Schwartz (USA, Schweiz), Anna Segal (Ukraine, Israel), Hedda Seischab (Deutschland), Judith Shatin (USA), Oxanna Sivova (Russland, Deutschland), Yang Song (China), Anne Terzibaschitsch (Deutschland), Ying Wang (China, Deutschland), Lanquin Yu (China), Tatsiana Zelianko (Weißrussland, Luxemburg), Khadija Zeynalova (Aserbaidschan, Deutschland) und Negin Zomorodi (Iran).
Wie auch schon bei Anton Diabelli ist die Reihenfolge der Kompositionen alphabetisch nach dem Nachnamen der Komponistinnen geordnet. Eine spezielle inhaltlich geprägte Dramaturgie in der Anordnung der Variationen gibt es also nicht. Bei Diabelli war das durch die Einheitlichkeit des Stils problemlos möglich. Bei Bigos gilt letztlich das gleiche Argument – nur quasi umgekehrt: durch die Vielzahl des Unterschiedlichen ergibt sich auch in der alphabetischen Sortierung eine ganz eigene Dramaturgie. Das barocke Prinzip der „Variatio delectat“ gewinnt hier eine ganz neue Tiefe. Bigos sagt dazu augenzwinkernd: „Eines steht fest: Die Komponistinnen haben nicht voneinander abgeschrieben.“
Die Weite der Variationen läßt sich schwer beschreiben: Zunächst fällt einem gegenüber dem „Ur-Diabelli“ eine höhere atmosphärische Dichte auf – unüberhörbar. Ob dieses allerdings als etwas „typisch Weibliches“ analysiert werden darf, scheint zu weit gegriffen. Die Komponistinnen setzen sich sehr frei mit Diabellis Thema auseinander. Die Länge von 32 Takten wird immer wieder mal eingehalten – ist aber für die neuen Kompositionen offenbar eine unnötige Begrenzung. Das melodisch wie harmonische Thema wird aufgegriffen – immer wieder, erfährt aber eine eher kritische Auseinandersetzung. Armenuhi Karapetyan formuliert: „Die Variation ist das, was eine Komponistin des 21. Jahrhunderts über das Thema denkt [sic !], nachdem sie es gehört hat.“ Dabei können zum Beispiel nur Elemente des Originals (z. B. Bassläufe, die Vorschläge) aufgenommen werden und in ein neues kompositorisches Umfeld eingebettet werden. Aus einem Walzer kann gleichermaßen ein Klagelied für den Vater (Phillips) wie auch ein „Rockin‘ Diabelli“ (Meyer) oder ein „Furioso“ (Merk) werden. In jedem Fall aber scheint das Ziel immer wieder „(K)Ein Denkmal für AD“ (Schabert) werden zu sollen. Die extremste Variation bietet sicher Ying Wang – sie vermeidet alle „alle klassischen Variationstechniken. Das Konzept der Überlappung wird zum Hauptgedanken des Stücks. Alle Noten sind zu Clustern verdichtet. Es gibt keine Tonalität, nur Tonumfang und Dichte. Alle Töne des Diabelli-Walzers kommen hier vor, ebenso identisch ist die Zahl der musikalischen Ereignisse.“
Diabelli Recomposed lohnt ohne Frage der weiteren Beschäftigung – auch außerhalb des Konzertsaals. Zwei Hilfsmedien stehen dazu zur Verfügung: der Livestream des Konzertes (der allein während des Konzertes schon von über 400 Zuhörern mitverfolgt wurde) und eine außergewöhnlich gute Notenausgabe des Furore-Verlages mit reichhaltigem Vorwort und Informationen zu Komponistinnen und Kompositionen.
Kleiner Exkurs „53“: In der Notenausgabe sind „nur“ 50 und nicht 53 Kompositionen abgedruckt. Das liegt zum einen daran, dass eine Komponistin (Dongu) an einen anderen Verlag gebunden ist. Die Zugabe im Konzert von Zomorodi entspricht nicht den Vorgaben des Projektes, ist für Klavier 4händig gesetzt. Die versprochene Fassung für Klavier 2händig wurde leider nicht nachgereicht. Bigos erfuhr später, dass Zomorodi im Zusammenhang mit der Frauenrevolution aus dem Iran geflohen ist und eine weitere Komposition in dieser Zeit nicht möglich war. Das Werk von Matviienko ist letztlich keine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Diabelli-Thema, auch wenn es Walzeranklänge hat. Das Werk wurde in auf Grund des Ukrainekrieges in das Konzertprogramm aufgenommen – als Hymne für Frieden und Liebe in der Welt.
Kritisieren kann man immer. Da gibt es womöglich zu viele deutsche Komponistinnen und zu viele (von Europa aus gesehen) aus den östlichen Gebieten der Welt – keine Skandinavierinnen, keine Japanerinnen und keine Irinnen. Da versteht man möglicherweise nicht, warum in dieser wunderbaren und penibel und akribisch recherchierten Ausgabe mit wirklich allen Angaben etwa das Geburtsjahr von Dorothea Hofmann fehlt – Wikipedia weiß es! – Aber diese Kritik wäre ausgesprochen kleinlich und völlig unangebracht! Bigos, den Komponistinnen und dem Furore-Verlag ist ein ganz großer Wurf gelungen – das muß man neidlos anerkennen und für die Komponistinnenszene als ein großes „Wir-sind-da-Moment“ feiern! Bravo – mehr davon!
Weitere Informationen:
- https://www.youtube.com/watch?v=Ht5avd5HIsg – Der Stream des Konzertes. Er beginnt etwa bei 31:37 und nach der Pause bei 1:53:00. Absolut hörenswert!
- https://furore-verlag.de/produkt/diabelli-recomposed-50-variationen-fuer-klavier - Die grandios gelungene Notenausgabe von Diabelli Recomposed im Furore-Verlag.
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