Die Alte Oper Frankfurt hatte ihr „Auf-takt“-Festival 2005 dem Komponisten Helmut Lachenmann gewidmet. Für das im Mittelpunkt des Festivals stehende Porträt des Komponisten hatte Hans-Klaus Jungheinrich für das mittlerweile zur Tradition gewordene Symposium ausgewiesene Kenner der zeitgenössischen Musik eingeladen. In Referaten und Diskussionsbeiträgen wurden neue und klar formulierte Aspekte des Schaffens von Helmut Lachenmann im Deutungsringen um sein Werk zur Sprache gebracht.
Nach wie vor ein großer Vorteil dieser Veranstaltung ist die Mischung aus ordentlich bestallten Musikwissenschaftlern und unmittelbar im Geschehen des Musiklebens tätigen Publizisten. Letztere sind auf unmittelbare Verständlichkeit ihrer Sprache angewiesen. Mitunter fühlte man sich an Wittgensteins hier durchaus angebrachte Mahnung erinnert, dass das, was sich überhaupt sagen lässt, sich klar sagen lassen müsste. Mancher Redner las als personifizierte Publikation sein Manuskript herunter, als säße niemand im Raum.
Klar war Hartmut Lücks freihändige Darstellung von Helmut Lachenmanns Sprachbehandlung in ganz unterschiedlichen Werken, in denen er teilweise selbst mitwirkt, so etwa in der Komposition „Zwei Gefühle“ nach einem Text von Leonardo. Das Sprechen des Textes sei schon eine Anverwandlung und die Herausfilterung bestimmter Phoneme daraus ein weiteres ästhetisch-kompositorisches Merkmal von Lachenmanns Zugriff darauf. Es seien gerade die sinnlichen Vokale, die auf ihren klanglichen Gehalt hin abgefragt würden. Gedehnte M- und N-Laute etwa, oder immer wieder das gerollte „R“.
Der nicht minder versierte Lachenmann-Experte Max Nyffeler konnte daran mit seinen Reflexionen über die Transzendenz in Lachenmanns Musik direkt anschließen. Das unmittelbare Machen selbst sei bereits auch ihre Transzendenz, hob Nyffeler hervor und erntete damit das kritische Lob des Komponisten, der sich auf eine Transzendenz ohne Hermeneutik berief, also auf ein Verstehen seiner Musik ohne Textauslegung von der Seite. Auch das ein Fazit des ersten von zwei Tagen: Lachenmanns Musik ist immer politisch – ein alter Hut –, will vielleicht als Musik ganz unmittelbar und eben zunächst nicht bedeutungsgeladen gehört werden.
Das mag der größte verbindende Unterschied auch zu Luigi Nono sein. Der Kritiker Gerhard R. Koch analysierte das Verhältnis von Lachenmann zu seinem Lehrer Luigi Nono sehr einfühlsam. Lachenmann selbst antwortete darauf sehr persönlich – ein gutes Gesprächsklima. Dass der nur elf Jahre ältere Nono eben keine klassische Lehrerfigur war und das Verhältnis Lachenmann-Nono in der Tat erheblichen Schwankungen ausgesetzt war, bestätigte Lachenmann umgehend.
So war Italien für Lachenmann während seiner Zeit beim Venezianer um 1960 eben nicht das in deutscher Bildungstradition stehende Land, wo die Zitronen blühen, sondern die Potenzierung seines eher bildlosen Stuttgarter Protestantismus, der sich dann in epitaph- und requiemartigen Kompositionen später ausdrückte. Werkgeschichtlich sei dies, so Koch, die unmittelbar sicht- und hörbare Gemeinsamkeit der beiden großen Komponisten. Lachenmann-Nono also ein schwieriges Verhältnis mit Wirkungsgeschichte. Fazit Lachenmann: „Bei mir musste er sich immer herablassen zu dem entlaufenen Pfarrerssohn“.
Ein Konzert mit Aha-Effekt bot das Ensemble Modern im Rahmen des Auftakt-Festivals mit Werken von Luigi Nono und seinen beiden ehemaligen Meisterschülern Nicolaus A. Huber und Helmut Lachenmann. Mit dieser scheinbar objektiven Feststellung beginnen die Deutungsprobleme – zum Glück, denn große Kunst war noch nie ohne ihre darin thematisierten Widersprüche zu haben. Die Frage bleibt meist offen, ob man „etwas geworden“ ist, weil man dessen Schüler war, oder weil man sich vom Lehrer abgesetzt hat. In diesem Spannungsfeld von Selbstständigkeit und Orientierungssuche mögen sich Helmut Lachenmann und Nicolaus A. Huber zeitlich nacheinander befunden haben, als sie von Nono seinerzeit gewissermaßen als Privatschüler akzeptiert wurden.
Tatsächlich könnte ihre Klangsprache bei partikularer Ähnlichkeit nicht unterschiedlicher sein. Zwar thematisieren beide ihre jeweils eigene, kompositorisch fruchtbar gemachte Geräuschwelt. Während aber Huber in seinen vor gut 20 Jahren komponierten „Sechs Bagatellen“ für Kammerensemble und Tonband dem klanglichen Ereignis durch ein weit verzweigtes Zitatgeäst mit Versatzstücken aus Klassik und Unterhaltung erst einmal auf Umwegen Odem einhauchen muss, verblüfft und erfreut der große Umregistrator unserer Instrumentalsprache, Helmut Lachenmann, erneut mit einer im Gegenteil dazu wenig verkopften, unmittelbar aufnehmbaren und streckenweise vom unterschwellig wirksamen Beat seiner Perforationen nach vorn getriebenen „musique concrète instrumentale“.
So geriet die deutsche Erstaufführung von „Concertini“ als „Musik für Ensemble“ nach der Weltpremiere in Luzern (nmz 10/05, Seite 41) zu einem Fest der Sinne unter Berücksichtigung des von Nono mehr als inspirierten, von Huber und Lachenmann für ihre Werke gemeinsam beanspruchten gesellschaftskritischen Potenzials.