Die Premiere von „L’amazzone corsara, ovvero L’Alvilda regina de’ Goti“ von Carlo Pallavicino (1630-1688) mit dem Libretto von Giulio Cesare Corradi bei den 46. Innsbrucker Festwochen der Alten Musik ist ein Beispiel für viele Überraschungen, welche Opernentdeckungen aus dem späten 17. Jahrhundert beinhalten. Mit Preisträgern des 12. Innsbrucker Cesti-Wettbewerbs 2021 lieferte die Produktion von Barockoper Jung im Kammertheater ein erstklassiges Festspiel.
Drei Wände mit Büchern sind zu sehen und vier junge Gestalten in Schwarz gehören dort zum Personal. Bald klappt dieser Sammelort von Phantasien auseinander. Die kleinen Wände und Prospekte auf den Rollpodesten zeigen Fenster, Spiegel, grüne Wiesen und sogar einen furchteinflößenden Adler. Märchen total also mit barocke Bühnentechnik zitierenden Theatermitteln. Die Figuren der Oper springen heraus aus der Bibliothek, Literatur wird zu Spiel und manchmal greifen die vier Gestalten ein, helfen der Fiktion auf die Sprünge und lassen sich von dieser verzaubern.
Der Opernkomponist Carlo Pallavicino (1630-1688) agierte quasi auf halber Zeitstrecke zwischen Monteverdi und Händel. Er beschleunigte die Entwicklung zur Kontrastierung von Rezitativen und Arien, setzte auf orchestrale Harmoniefülle. Das war in der Premiere von „L'amazzone corsara“ zu hören. In jeder Partie gibt es packende und betörende Stellen. Der Dirigent Luca Quintavalle lässt so manche Arie nur von einem Instrument begleiten und greift dann wieder in einen der Szene angemessenen instrumentalen Farbtopf. Alles klingt vom Barockorchester Jung straff, leicht und mit einer Vielzahl von Schattierungen.
Das hängt auch mit dem überraschenden Sujet zusammen, das Giulio Cesare Corradi für die 1686 in Venedig uraufgeführte Oper ausgesucht hatte.„L'amazzone corsara“ folgt einer sagenhaften Story frei nach den „Gesta Danorum“ des Saxo Grammaticus aus dem 12. Jahrhundert. Damit kommen einige Märchenmotive in das Stück. Corradi fabulierte dazu etwas von Goten, weil ihm das nordgermanische Volk der Gauten, über das die Piratenkonigin Alvilda geherrscht haben soll, unbekannt war. Diese sträubt sich gegen die Liebe und gegen Männer wie Shakespeares Widerspenstige vor der Zähmung. Aber am Ende streckt sie vor dem König Alfo von Dänemark doch die Waffen, wird dessen Gattin wie Gilde die des viele virtuose Arien singenden Olmiro.
Trotz einer Vielzahl von Arientypen hat jede Figur durch Pallavicino ihren ganz eigenen Charakterton, singt Alvilda ihre männerverachtenden Tiraden anders als die praktikable Gilde bei ihren gutgemeinten Intrigen. „In der Liebe ist jeder Betrug lobenswert,“ dichtete Corradi. Das könnte ein Satz aus einem Lustspiel von Marivaux sein, entstand aber viele Jahrzehnte früher.
„L'amazzone corsara“ präsentiert märchenhafte Kollisionen und veredelt diese auch mit im Barock noch immer gern goutierten Vergleichen zur antiken Mythologie. Offenbar hat die Jagd- oder Fruchtbarkeitsgöttin Diana in Dänemark ein Heiligtum und braucht da priesterlichen Nachwuchs. Die Inszenierung macht viel Zeitgeist der Spätrenaissance sichtbar, vor allem in den Geschlechterpositionen. Alvilda ist natürlich ein Ideal und das Zentrum „nur“ einer von 120 Opern, welche sich an venezianischen Opernhäusern von 1650 bis 1730 um eine Amazone, eine Korsarin oder andere Frauen in männlichen Führungspositionen drehten. Aber mit dem Ruhm Alvildas ist es bei Pallavicino und Corradi gleich am Anfang vorbei. Um seine schöne Gegnerin nach fünf Jahren erfolglosen Schmachtens endlich zu erobern, setzt Alfo die ihm in einer Schlacht endlich Unterlegene in einem steinernen Rapunzel-Turm gefangen. Auch das sieht man in der Inszenierung Alberto Allegrezzas, der sein Ensemble leichthin gestikulieren lässt. Der Flötist und Verfechter frühbarocker Theatermittel verfährt in seiner Bewegungssprache für die Figuren mit einer Differenzierung auf Höhe von Pallavicinos Vertonung.
Während Alvilda lange Zeit spröde und aggressiv bleibt, kehrt Alfo beim sehr demütigen Liebeswerben um sie seine weiche, fast frauliche Seite hervor. Julian Rohde hat dafür einen kernig-elegischen Tenor. Er und das Ensemble waren 2021 Teilnehmer des im Rahmen der Innsbrucker Festwochen 2022 zum 13. Mal stattfindenden Internationalen Gesangswettbewerb für Barockoper „Pietro Antonio Cesti“. Zu dessen Sonderpreisen zählt unter anderem die Mitwirkung in einer Produktion Barockoper Jung bei den Innsbrucker Festwochen des Folgejahrs. Alle zeigen hier meisterhafte Stilkompetenz und wissen genau, was und wie sie singen. Konzentration und Artikulation sind vorbildlich. Shira Patchorniks lyrischer Heroensopran für Alfos Bruder Olmiro klingt auch nach vielen Koloraturen beachtlich rund. Helena Schuback kontrastiert in der Titelpartie scharfe Deklamation und sensible Kantabilität. Hannah De Priest als Gilde wechselt für jede ihrer Liebesintrigen die Stimmfarbe. Die Stimmen kommen in der hellen tragfähigen Akustik der Kammerspiele zur optimalen Entfaltung. Der Countertenor Rémy Brès-Feuillet zeigt als Delio ein elegantes bis freches Timbre. Als Fama und Hofdame Irene ist Marie Thêoleyre eine dramatische bis drastische Attraktion. Rocco Lia glänzt als Hofmeister Ernando mit einem schlankem Belcanto-Bass.
Manchmal erinnert sich Allegrezza an Gesten und Posen der Commedia dell'arte. Sein ästhetisches Spiel mit Literatur und Musik summiert sich durch das Ensemble und das pointierte Spiel des Barockorchester Jung zu kurzweiliger beglückender Theatralität. Am Ende viel Jubel.
- Wieder am 20., 22., 23. August 2023 / 19.00 Uhr Haus der Musik, Innsbruck (Premiere: 18. August 2022)