„Es ist ein einfaches, vollkommen unproblematisches Stück, und ich glaube sicher, dass es Ihnen nach einiger Zeit Freude machen wird. (Vielleicht sind Sie am Anfang ein wenig entsetzt, aber das macht nichts).“ So schrieb Paul Hindemith 1923 an den Pianisten Paul Wittgenstein, nachdem er ihm seine „Klaviermusik mit Orchester“ op. 29 übersandt hatte. Wittgenstein, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, gab daraufhin bei den renommiertesten Komponisten seiner Zeit Klavierwerke für die linke Hand in Auftrag – auch Ravel, Prokofieff und Janácek produzierten für ihn. Doch der konservative Österreicher tat sich schwer mit den Neutönern; schließlich hatte er noch Brahms gekannt und liebte eher die Klangopulenz eines Schreker oder Korngold statt dieser spröden Antiromantik. So kam es, dass Hindemith zwar ein fürstliches Honorar von 1.000 harten Dollars erhielt – das ihm inmitten der Inflation die Sanierung seiner Wohnung im „Kuhhirtenturm“ der alten Frankfurter Stadtmauer erlaubte –, doch sein Werk nie zu hören bekam. Allen Angeboten des Komponisten zum Trotz, den Klavierpart mit ihm „durchzunehmen“, hat Wittgenstein es nie gespielt, behielt sich aber das alleinige Aufführungsrecht zu seinen Lebzeiten vor, denn: „Ich habe bestellt und gezahlt“, schrieb er noch im Jahre 1950 einem Kollegen.
Das war kurz vor seinem Tod, doch erst im Jahre 2002 gelang es der Hindemith-Gesellschaft Frankfurt, die Partitur aus dem Nachlass zu erwerben. Genauer gesagt eine Abschrift, die Giselher Schuberth in einem von unzähligen Umzugskartons in einer New Yorker Lagerhalle ausfindig machte. „Die Arbeiter meinten, dass auch noch ein Beethoven-Autograph dabei sei“, berichtete der Leiter der Hindemith-Forschungsstelle anlässlich eines kleinen Symposiums, das der Uraufführung des Werkes in der Berliner Philharmonie vorausging. Von diesem Umstand abgesehen, der jedem Musikwissenschaftler und -bibliothekar die Haare zu Berge stehen lässt, konnte der reichlich fehlerhafte Fund aus in Frankfurt befindlichen Skizzen ergänzt und korrigiert werden, das Original dagegen blieb verschollen. Die Frage, warum jemand eine Abschrift von einem Autograph machte, das nicht gespielt werden sollte, ließ sich bisher nicht klären. Von Bedeutung ist sicherlich, so Schuberth, dass hier eine Musik aufgefunden wurde, welcher der Komponist selbst einiges Gewicht beigemessen hat. Denn den Mittelteil seines Werkes übertrug er aus dem Gedächtnis auf den langsamen Satz seines fünften Streichquartetts, eine zarte Trauermusik, in der über einem gleichbleibenden Pizzikato-Bass Bratsche und zweite Geige kanonisch geführt werden, während die erste Geige sich rhythmisch-metrisch davon abhebt. In der „Klaviermusik“ dagegen gibt es keine kanonische Struktur und nicht diesen Bass, sondern ein Ostinato aus elf Tönen der chromatischen Tonleiter, gerade noch keine Reihe.
Was kann Wittgenstein so „erschreckt“ haben, dass er das Werk nicht spielen wollte? Hindemiths „Bürgerschreck“-Phase war 1923 gerade vorbei. Stephen Hinton (Stanford University) ordnet das Werk zwischen erster und zweiter Kammermusik ein, an der Schnittstelle zwischen einem provozierend experimentellen Stil und der gemäßigteren „neusachlichen“ Schreibweise. Genau an diesem Übergang gebe es nur noch etwas polemische Härte in den Ecksätzen, die jedoch durch barocke Spielfiguren und einen gewissen Konstruktivismus abgemildert sei. Auch der Ausdruckscharakter sei strenger, es gebe darin nichts Romantisches mehr. Schuberth sieht innerhalb der einsätzigen, in vier Abschnitte gegliederten Anlage eine Neuartigkeit der Formprozesse, in der die Themen vielgliedrige, auch in der Instrumentation reich variierte Konfigurationen bilden, die Stimmen kontrapunktisch außerordentlich frei geführt werden und vor allem der Schlussteil als neuartige Verfahren das Arbeiten mit rhythmischen Mustern (patterns) und mit diastematischen Reihen aufweist. Damit und mit den Techniken der Montage und Collage, von Schnitt und Überblendung entwickelt das Werk nach Schuberths Worten eine „Aura der Mittel“, die es zum Inbegriff der „Neuen Sachlichkeit“ macht und ihm im Gesamtwerk zur exponierten Stellung verhilft.
Sir Simon Rattle persönlich hob das Werk 82 Jahre nach seiner Entstehung mit den Berliner Philharmonikern aus der Taufe; mit dem Pianisten Leon Fleisher, der selbst jahrzehntelang an einer Lähmung der rechten Hand gelitten hatte, war ein vielleicht für den Part prädestinierter Solist gewonnen worden. „Unproblematisch“ oder zu wenig virtuos ist das Stück gewiss nicht, fügt sich vielmehr trotz simpel anmutender „Elementarteilchen“ zu staunenswerter Vielfalt und Komplexität zusammen. In der sonst durchaus konventionellen Besetzung fallen vier Schlagzeuger auf. Nach einem mit Fagotten, Blechbläsern und tiefen Streichern recht ungewöhnlich gefärbten Unisono-Abwärtsgang beginnt das Klavier, stark in den Orchestersatz eingebettet – „eine Linie zwischen anderen“ nannte das Hindemith – eine freche Couplet-Melodie; die Dominanz von Trompeten und Posaunen lässt zuweilen an Bartóks zweites Klavierkonzert (dessen Tonfolgen zu Beginn aufwärts gerichtet sind) denken. Gleichmäßig gezackte Rhythmen nehmen dem jedoch die Wildheit und geben ihm einen neobarocken Zug; aggressive Akzente kommen von der großen Trommel; eher ironische, parodistische von Glockenspiel und Snare Drum.
Zwischen Militär und Jazz, Strawinsky und Orff scheint das Ganze in grellen und hellen Farben angesiedelt. Besagte „Trauermusik“ im Mittelteil wirkt weniger starr und schablonenhaft als in späteren Werken; zum melancholischen Englischhorn-Gesang türmt das Klavier immer dissonantere Mixturen auf, vielstimmigen Satz in einer Hand. Das hat mit dröger, antiexpressiver „Spielmusik“ nicht das Geringste zu tun. Der mit heftigen Tutti-Schlägen „aufweckende“ Schlussteil steigert die Mittel und Effekte des ersten um ein Vielfaches: noch wirbelnder die Repetitionen, noch mutwilliger die virtuosen Läufe, obwohl der Klavierpart eher schwierig-spröde als „dankbar“ wirkt. In einem zweiten Themenkomplex wirkt das Figurenwerk so reichhaltig verschlungen, als wäre es durch Improvisation zustande gekommen, ostinate Muster überlagern und verschieben sich immer neu, toben einen Moment lang im unübersichtlichen Strudel, bis dann doch alles im einträchtigen „Gigue“-Gestus zusammenfindet. Ein zündendes, in Berlin heftig bejubeltes Werk, das die Vorzüge des „frühen“ wie des „späten“ Hindemith in seinem besonderen Entstehungsmoment des Phasenübergangs zu vereinigen scheint, eine Entdeckung, die möglichst rasch zur Repertoire-Bereicherung werden sollte.