Mitte der 1990er-Jahre komponierten Alfred Schnittke (für die Wiener Staatsoper) und Franz Hummel (für das Pfalztheater Kaiserslautern) polystilistische Opern über das (weitgehend im geschichtlichen Dunkel liegende) Leben Gesualdos. Don Carlo Gesualdo, Fürst von Venosa, leistete als Lautenist und Komponist im späten 16. Jahrhundert einen Beitrag zur Musikgeschichte Neapels; lange nach seinem Tod wurde er verdächtigt, die Tötung seiner Frau und eines Gastes, den er für ihren Liebhaber hielt, in Auftrag gegeben zu haben.
Von dieser Fama, mit der zugleich der Madrigalist Gesualdo fokussiert wird, bezogen die Libretti ihren Reiz. Drei beziehungsweise zwei Jahre nach den Uraufführungen der Schnittke- und Hummel-Opern schob der sizilianische Autodidakt Salvatore Sciarrino mit „Luci mie traditrici“ eine weitere Kammeroper über den insbesondere als Bauherrn bedeutsamen Fürsten und die Liaison dangereuse seiner Gattin nach. In dieser handlichen Version und nicht zuletzt dank barocker Erbschaften in der Lineatur der neuer Musik wurde die zu Herzen gehende alte Geschichte von irregulärer Liebe und tödlicher Eifersucht quer durch Europa präsentiert und goutiert. Ausgehend vom Rokokotheater Schwetzingen fand gerade auch das Alte im musikalisch Neuen Zuspruch.
Dergleichen Erfolge reizen versierte Zeitgenossen, das Rezept aufzugreifen und in der Machart eines solchen offensichtlich nachhaltig wirksamen Werks fortzufahren. Für den britischen Komponisten und Dirigenten George Benjamin bearbeitete der Londoner Dramaturg Martin Crimp einen razo aus dem 13. Jahrhundert. Der namentlich nicht bekannte okzitanische Troubadour erzählt in dieser Ballade eine Dreiecksgeschichte, die der Gesualdo nachträglich angedichteten stark ähnelt: Ein Protektor, unter dem man sich einen politisch einflussreichen Großgrundbesitzer vorzustellen hat, hält sich mit der schönen Agnès eine 14-jährige Frau, der das Lesen und Schreiben nicht beigebracht wurde.
Der Feudalherr, der gelegentlich „feindliche Dörfer“ in Brand stecken lässt, nimmt einen jungen Buchmaler in seinen Haushalt auf und beauftragt diesen, ihn mitsamt seinen guten Werken in einem Buch zu verewigen. Zunächst ablehnend gegenüber dem neuen Medium, wird Agnès bald neugierig – auch gegenüber dem jungen Künstler. Es kommt, wie es kommen muss: Da entbrennt heftige Liebe und Agnès triumphiert über ihren alternden Gatten, indem sie den Maler den Widerschein der Glut ins Buch schreiben und malen heißt. Der Protektor bringt den naiven Künstler um, schneidet ihm das Herz aus der Brust und serviert es Agnès gut gegart. Die sich seiner Enthüllung anschließende körperbetonte Auseinandersetzung entscheidet die Frau, indem sie vom hohen Balkon springt.
Crimps Text führt mit dem Eingangsgesang der drei Engel aus der Gegenwart der International Airports und Parkhäuser hinüber ins Hochmittelalter, in dem jedes Buch einzeln von Hand und auf Tierhaut gestaltet wurde – „written on skin“. Die Dialoge befleißigen sich der indirekten Rede, wie dies heute noch Siebenjährige praktizieren („ich wäre jetzt die Prinzessin“) und fügen ihren gewichtigen Sätzen allemal ein „says the boy“ oder „says the woman“ hinzu. Das unterstreicht die Kindheitsmuster der Buch-, Mal- und Theaterkünste des 13. Jahrhunderts, von deren Aura das Uraufführungsprojekt in Aix in hohem Maß profitiert (im Detail dann auch von einzelnen Melodiefloskeln der mittelalterlichen geistlichen Vokallineatur und von rekonstruierter Spielmannsmusik).
Die Form der Anknüpfung entspricht der von Hans Pfitzners „Palestrina“, Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ und – am meisten – dem Zugriff von Amin Maaloufs und Kaija Saariahos „L‘amour de loin“ auf eine Trobador-Legende (Salzburg 2000). Nun hat auch die von Arnold Bax, Benjamin Britten und Harrison Birtwistle repräsentierte Linie einer spezifisch britischen Musikzubereitung ein Stück schlicht-erhaben erzählten und prunkend neu betönten Mittelalters erhalten. Dies erscheint umso gewichtiger, als sich das britische Kulturleben bezüglich seines Traditionalismus und des historischen Bewusstseins in besonderer Weise etwas zu Gute und Altaquitanien irgendwie für zugehörig zur eigenen Königs- und Adelsgeschichte hält.
Vicki Mortimer baute für Katie Mitchells anschmiegsame Inszenierung im Grand Théâtre de Provence (in enger Anlehnung an Giles Cadles Bühnenarchitektur für die Amsterdamer Uraufführung von Manfred Trojahns „Orest“ im Dezember) ein Arbeits- und Wohngebäude in zwei Etagen. Jeweils links, unten wie oben, wird eine moderne Theatergarderobe bespielt, in der die fünf Protagonisten mittelalterlich eingekleidet werden für ihre ausgesungenen Verhandlungen der eitlen Selbstgerechtigkeit des Protektors, des jungen Gewerbefleißes, des Begehrens, der dampfenden Sexualität und der kalten Rache in der rechten Hälfte. Dort deuten Braun- und Pastelltöne sowie alte Scheiben und durch die Decke wachsende Bäume das Mittelalter an. Das alles ist sehr dekorativ und anheimelnd schön. Doch die Vehemenz des Textes wurde, trotz des hohen Körpereinsatzes der Sängerdarsteller, für die Augen älterer französischer Theatergängerinnen abgedämpft. In Katie Mitchells Kunst ist keine Faust.
Die Uraufführung von „Written on Skin“ verfügte mit Christopher Purves über einen souverän wohlbeleibten Protektor, der mit seinem stattlichen Bariton den Machtmenschen beglaubigt. Bejun Mehta stellt seine sympathische Counterstimme in den Dienst der jungen Buchmacherkunst und des Verführtwerdens. Triumphal gestaltete sich der Premierenabend für die Amsterdamer Sopranistin Barbara Hannigan aus Kanada, der George Benjamin die Rolle der Agnès auf den Leib schrieb: Hannigan verfügt souverän über traditionelle Gesangstechniken wie über deren Grenzverletzungen. Sie ist die Top-Darstellerin der Gegenwart für eine solche Partie.
George Benjamin, geboren 1960 in London und dem Vernehmen nach einer der letzten Lieblingsschüler Olivier Messiaens, kompilierte mit souveräner Routine eine moderat-moderne Partitur, in der die Spolien der mittelalterlichen Musik mattgold leuchten. Er dirigierte selbst und positionierte seine Arbeit bestens. Sie wird auch in Amsterdam gezeigt, in Toulouse, Florenz und am Royal Opera House Covent Garden in London. Auch in München, Berlin oder Wien würden die Leute in Scharen zu ihr in die Staatsopern pilgern.