Dem landläufigen Irrtum, das ganze Theater fange erst an, wenn drinnen der Vorhang hochgehe, begegnet eine riesig aufgeblasene rosa Puppe auf dem Platz vor dem Frankfurter Opernhaus. Sie blickt ins erste Stockwerk, wo hinter der gläsernen Fassade aufgereiht das Publikum auf Stühlen sitzt. Es kann der Puppe keine Schwefelhölzer abkaufen, blickt ihr nur in die aufgemalten Augen und schaut zugleich auf die Stadt draußen, dem Ort der eisigen Gefühlskälte, von der Helmut Lachenmanns Musiktheater „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ handeln wird.
Drinnen ist alles anders als sonst in der Oper. Ein Teil des Publikums sitzt auf der Bühne, auf einem Gerüst darüber ein Teil des Orchesters. Die übrigen Musiker und der Chor sind rundum im ersten und zweiten Rang gruppiert, so dass das Publikum eingekreist ist von der Musik. Es gibt viel Halbdunkel und Gegenlicht und eine nicht auf den ersten Blick überschaubare Ordnung im Raum (Bühne: Natascha von Steiger, Licht: Joachim Klein), aber nichts beschränkt die Ausbreitung der Musik. Sie verzichtet weitgehend auf konventionelle Orchesterklangbilder, reibt sich voller Klangfantasie an den Rändern instrumentaler Spieltechniken. Sie trägt das Stück nicht nur, sie ist praktisch alles, was darin zum Ausdruck kommt: Sie erzählt, begleitet und kommentiert die Geschichte, definiert emotionale Werte und entwirft mit ihren Mitteln die nötigen Bilder.
Benedikt von Peters Inszenierung vermeidet jede Versuchung, illustrativ daneben her zu arbeiten. Es gibt kein Mitleid erregendes Mädchen und zum Glück keine konkretistischen Flüchtlinge. Es gibt nur ein halbwegs narratives Element in dieser Inszenierung: ein Duo aus dem Schauspieler Michael Mendl und einem Meerschweinchen auf einer blauen Matte im Zentrum der Bühne, überlebensgroß auf eine zentral angeordnete Leinwand projiziert. Das Tier mit seinem hohen Niedlichkeitsfaktor und seinem undressiert-selbstgenügsamen Schnüffeln und Knabbern erregt allenthalben Rührung, aber das ist nicht der ganze Sinn der Sache. Mit sparsamer, langsamer und präziser Gestik und seinem eindrucksvoll markanten Gesicht zeigt Mendl alles, was außer der Musik nötig ist, um Lachenmanns konzentriertes Drama zu ermessen.
Es geht nicht, wie zu Zeiten der Uraufführung (1997) gelegentlich geargwöhnt, um eine Überblendung von Hans Christian Andersens Märchengestalt mit der „zündelnden“ Gudrun Ensslin, obwohl darin ein exemplarisches Moment der Geschichte steckt; es geht nicht um Gesangskunst und Orchesterbrillanz auf der Opernbühne, obwohl beide Voraussetzungen sind für jegliche Angemessenheit der Inszenierung; es geht auch nicht um kathartische Wirkungen, obwohl das als Nebeneffekt vielleicht nicht völlig unerwünscht wäre. Es geht bei Lachenmanns „Musik mit Bildern“ und Benedikt von Peters Umsetzung vor allem um Einsamkeit in einer kalten Welt. Die fast zweistündige variantenarme Interaktion eines – mit Verlaub – alten Mannes mit einem niedlichen Meerschweinchen liefert dafür eine überraschend intensive Chiffre ausweglosen Angewiesen-Seins.
Der Bezug auf Gudrun Ensslin – der inhaltlich nicht gewichtiger ausfällt als der auf Leonardo da Vinci – kann das Verständnis des Werkes schon deshalb nicht überwuchern, weil Lachenmann die verwendeten Texte enigmatisch zerstückelt und in Halbsätze und Lautfolgen aufgelöst hat, die ebenso viel verschweigen wie preisgeben. Er tritt in Frankfurt selbst auf die Bühne, um dem Text Stimme und Gestalt zu geben: Mendl und Lachenmann stehen gemeinsam für ein tiefes Misstrauen gegen jede leichtfertige deutende Auflösung einer tiefgreifenden Tragödie.
Die beiden vorzüglichen Solistinnen Christine Graham und Yuko Kakuta sind unverdient an den Rand der Inszenierung geraten. Das ChorWerk Ruhr (Einstudierung: Michael Alber) und das perfekt auf seine diffizilen Aufgaben eingestellte Frankfurter Opern- und Museumsorchester (Musikalische Leitung: Erik Nielsen, Matthias Hermann) tragen zum Gelingen der Inszenierung entscheidend bei. Genau wie die Klangregie (Felix Dreher), die bei Lachenmanns Musik und der in Frankfurt realisierten Opernraum-Ordnung eine tragende Rolle hat. Das Ganze dieses komplexen Musiktheater-Werkes fügt sich in Benedikt von Peters Inszenierung wie selbstverständlich aus all seinen heterogenen Einzelheiten zusammen.