Man ist immer wieder neugierig auf Opernausgrabungen. Die dänische Nationaloper schlechthin, Carl Nielsens „Maskarade“, uraufgeführt 1906 und in Dänemark ein Kultstück bis heute, ist so ein ausserhalb Dänemarks selten aufgeführtes Werk. Vielleicht muss man Däne sein, um das Stück würdigen zu können, denn es betrifft die dänische Seele, Befindlichkeit oder was auch immer und zielt auf die Identität der Dänen mit ihrer pietistischen Strenge und Bigotterie, ihrem schlechten Wetter und der Sehnsucht, all dem zu entfliehen.
Nielsen (Jahrgang 1865, wie Sibelius), Zeitgenosse von Debussy, Mahler und Strauss, schrieb das Stück, das auf einer Komödie Ludovic Holbergs aus dem Jahre 1724 basiert, 1905-1906. Holberg wurde auch der „dänischen Moliere“ genannt, in seinem Heimatland ein hochangesehener Autor. Vilhelm Andersen hat die Komödie zum Libretto umgestaltet.
Die Handlung spielt im Jahr 1723 in Kopenhagen im Haus von Jeronimus und Magdelone. Nach einem Maskenball am Vortag wachen deren Sohn Leander und sein Diener Henrik, der es auf die Zofe Pernille abgesehen hat, verkatert auf. Es ist bereits fünf Uhr nachmittags. Trotzdem will Leander auch heute zum Ball, um die Unbekannte wiederzusehen, in die er sich gestern verliebt und mit der er bereits Ringe getauscht hat. Leider beabsichtigt sein Vater, ihn mit einer Anderen, zu verheiraten, die er noch nie gesehen hat.
Der Kopenhagener Bürger Jeronimus nimmt Anstoß an den vielen Maskeraden und Tanzvergnügungen in der Stadt. Denn Maskeraden gefährden seiner Meinung nach die Sittlichkeit. Jedermann hat Zutritt, alle sind gleich und die freie Liebe feiert dort freudige Urstände. Er verbietet seinem Sohn und dessen Diener, sie weiterhin zu besuchen und installiert seinen allerdings bestechlichen Diener Arv als Hauswache. Auch seine Frau, die sich in einen Geschäftsfreund verliebt hat, will auf den Maskenball. Jeronimus selber spitzelt ihnen hinterher, als Bacchus verkleidet. Für Sohn Leander stellt sich die wiedergefundene Leonora als die Tochter des Geschäftsfreunds, mit der Jeronimus ihn verheiraten wollte, heraus. Ein schöner Zufall. Nach verordneter Abnahme der Masken steht einem Happy End steht nichts im Wege.
Nielsen hatte mit der Maskerade eine Saite der dänischen Seele zum Klingen gebracht, die des neuen demokratischen Denkens. Daher gewinnt das Maskenfest in der Oper mehr Gewicht, als es bei Holberg hatte. Der überwiegende Teil des Originalstück ist im denn auch im ersten Akt zusammengedrängt.
Die Handlung des 3. Aktes spielt während des Maskenballs mit seinen Liedern und Tänzen, seinen Weisen und Vergnügungen. Handlung und Rede weichen zeitweise reiner Musik.
Das Stück thematisiert den Gegensatz von Jung und Alt, Prüderie und Sinnlichkeit. Es ist eine an der Comedia dell’ Arte orientierte Verkleidungs- und Verwirrungskomödie mit reichlich Situationskomik und lieto fine (gutem Ausgang). Sie ist allerdings recht bieder, um nicht zu sagen einfach gestrickt.
In der Oper, ein leichtfüssiger wie turbulenter Dreiakter, gibt es Anspielungen an Verdis „Falstaff“, man meint aber auch bereits Vorklänge an Prokofiev und Strawinsky zu hören, zumal in den Ballettmusiken. Auch der Nachtwächter aus Wagners „Meistersingern“ läßt grüßen.
Im Booklet einer dänischen Gesamtaufnahme der Oper liest man: „Die Melodien aus Maskarade trugen zur Begründung einer neuen dänischen ldentität bei und wurden sehr schnell wohlbekannt bei einer Generation von Dänen, die sich mit der Aussicht abfinden musste, dass es für ihr kleines Land schwierig werden könnte, als unabhängige Nation in den Auseinandersetzungen der Großmächte zu bestehen. Vilhelm Andersen und Carl Nielsen schufen den Durchbruch zu neuer Energie und neuen musikalischen Ressourcen in der dänischen Psyche, ein Lichtblick in einem Land, in dem es elf Monate im Jahr regnet und die Menschen in Matsch und Wasser umher planschen.
Mit ‚Maskarade‘ war ein neuer Ton in der dänischen Musik geschaffen worden; dies kam später in Carl Nielsens Hauptwerk zutage und besonders durch seine pädagogischen Aktivitäten, die die Wiedergeburt und Erneuerung der gesamten dänischen Volksliedtradition zur Folge hatten. Doch, erstaunlich genug, verweist die Oper auch auf sein modernstes, ja postmodernes klassisches Werk, die 6. Sinfonie von 1924. Es ist, als ob Carl Nielsen und seine Generation eine geheime Quelle gekannt hatten, in der Tradition und Moderne zusammenfielen.“ Schön und gut, aber aus heutiger Sicht und verglichen mit anderen Opern der Uraufführungszeit von „Maskarade“ kommt einem die Musik doch reichlich heterogen vor, Großartiges steht neben Belanglosem, Raffiniertes neben Biederem. Es gibt viel musikalischen Leerlauf und wenig Dramatik. Nichts ist in dieser Musik zwangsläufig, zwingend oder packend. Als Oper ist sie recht unopernhaft. Die Musik plätschert gediegen und selbstgefällig vor sich hin, ist sich selbst genug. Zu großer Form läuft Nielsen allerdings in seinen Tänzen auf, vor allem in der Schlussszene des Ballakts, einem furiosen, wirkungsvollen Finale.
Stephan Zilias macht der Musik Nielsens ordentlich Beine, wertet sie eindeutig auf, aber er kann die häufigen Momente der Langeweile nicht übertünchen, sie sind eben komponiert. Das Gewandhausorchester ist allerdings in bester Form und beweist Spiellaune und Spielkultur gerade in den vielen „schönen Stellen“ voller instrumentaler Delikatessen.
Auch die Sängerbesetzung ist vorzüglich, eine runde Ensembleleistung, auch wenn ausgerechnet der brilliante (noch) hauseigene Tenor Patrick Vogel wegen Krankheit als Leander ausfiel. Für ihn sprang zur Rettung der Premiere der dänische Tenor Gert Henning Jensen ein, ein Glücksfall. Er traf den dänischen Tonfall und die Mischung von Konversation und jugendlich heldischem Draufgängertum ideal.
Ein Volltreffer an sängerischer Souveränität wie darstellerischer Erotik ist der Bariton Marek Reichert. Er schoss in der Premiere gewissermaßen den Vogel ab. Auch der Diener Arv des immer wieder vorzüglichen Tenors Dan Karlström ist eine subtile Charakterstudie. Die Sopranistinnen Theresa Pilsl (Leonora) und Sandra Janke (Pernille) verfügen über anmutige, berührende lyrische Qualitäten, der böse, Alte, Jeronimus, ist bei dem Bass Magnus Piontek, der über die stimmliche Autorität und gestalterische Agilität, die die Partie verlangt, in besten Händen. Um nur die wichtigsten Partien zu nennen. Aber auch der Rest des Ensembles überzeugte.
Bleibt noch, die Inszenierung von Cush Jung zu erwähnen, des Chefregisseurs der Musikalischen Komödie Leipzigs und erwiesener Musicalspezialist. Er hat das barocke Stück, bei dem man immer wieder einmal an Hogarth und „The Rake´s Progress“ denkt, in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts verlegt. Karin Fritz hat ihm hinreißende Kostüme entworfen und eine Bühne, die in Sauna, Kosmetiklounge, Arbeitszimmer (mit Panoramafenster, durch den man auf Dauerregen blickt) des Pfeffersacks Jeronimus (der zum reichen Reeder mutiert) und Containerhafen, der zum Austragungsort des Balls vor Glitzer- und Theatervorhang dient. Auch mit einem spektakulären Lüster aus Bouteillen kann die auf Showeffekte setzende Inszenierung aufwarten.
Cush Jung wollte eigenem Bekunden nach in diesem Stück die Spießigkeit der 50er Jahre und den Kontrollverlust von Eltern über ihre Kinder spiegeln. Nun gut. Die Tanzeinlagen (Hahnentanz und Mars-, Venus- und Vulkan-Divertissement) hat Oliver Preiss gekonnt und mit Pfiff choreographiert, Tänzer der Oper Leipzig haben sie souverän realisiert.
Alles in allem eine respektable Produktion. Und doch bleibt die Frage: Muss man dieses Werk aufführen?