David Hermann fügt an der Frankfurter Oper drei Werke von Schönberg mit Frank Martins „Jedermann“-Monologen zu einer verblüffend stimmigen Erzählung des Scheiterns von Beziehungen.
Einer der tiefsinnigsten Filme von Woody Allen ist „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ von 1989, in dem der Fernsehproduzent Lester einen großen Satz beiläufig fallen lässt: „Komödie ist Tragödie plus Zeit“. Am Frankfurter Opernhaus stellt Regisseur David Hermann diese griffige These auf den Kopf, denn er beginnt seinen aus vier Teilen scheinbar nur lose gefügten Abend unter dem Rätseltitel „Warten auf heute“ mit Arnold Schönbergs knapp einstündiger Kurzoper „Von heute auf morgen“, gefolgt von dessen „Begleitmusik zu einer Lichtspielszene“ und – nach der Pause – zwei großen Monologen: Frank Martins „Jedermann“-Monologen für Bariton und Schönbergs Monodrama „Erwartung“ für Sopran. Und am Ende muss man konstatieren: In Wahrheit ist es wohl andersherum, denn tatsächlich wird hier die Tragödie aus einer Komödie plus der unbarmherzig ihr Zerstörungswerk verrichtenden Zeit.
Jo Schramm hat ein aseptisches, weißes Einfamilienhaus auf die Drehbühne gewuchtet, wie es in einer amerikanischen Mittelklasse-Vorstadt des mittleren 20. Jahrhunderts stehen könnte, das aus mehreren Segmenten besteht, die sich immer wieder anders öffnen und in raffinierten Verschachtelungen neu zusammenfügen. Mit weißen Netzen verhüllte (Obst?)-Bäume wirken so tot wie abgedeckte Möbel in einem verlassenen Haus. Doch zunächst geht es bunt und munter zu in Schönbergs flotter Zeitoper „Von heute auf morgen“, die 1930 an der Oper Frankfurt zur Uraufführung kam. Der Einstünder ist eine rasante Kombination von Zwölftontechnik, operettenhafter Schlagfertigkeit und Jazzelementen. Verhandelt wird – Gertrud Schönberg schrieb das Libretto unter dem Pseudonym Max Blonda! – die aufgeklärte, offene Zweierbeziehung anhand einer zunächst scheinbar harmlosen Eifersuchts-Stänkerei: Ein bürgerliches Paar kommt von einem geselligen Abend nachhause, beide haben außerehelich geflirtet, er (Sebastian Geyer mit markantem, akzentuiertem Bariton) bewundert eine emanzipierte, „moderne“, aufreizend unabhängige Freundin von ihr, sie (Elizabeth Sutphen mit höhensicheren, manchmal etwas flirrendem Sopran) lässt sich von einem Tenor anschmachten. Der Klassiker: Er langweilt sich in der Vorstadt-Ehehölle mit braver Gattin und Kind, sie entzieht sich daraufhin, gibt sich verführerisch-mondän und beweist ihm damit „Jede Frau kann beides!“. Daraufhin vertieft sie den Flirt mit dem Tenor, er wird rasend eifersüchtig und wünscht sich seine Frau zurück „wie sie früher war“. Am Ende geht es vorläufig gut, die Ehe scheint gekittet.
Aber dann folgt Schönbergs verstörende Filmmusik, die den Schlagworten „Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe“ folgt. David Hermann zeigt hier in einer Art Zeitraffer, wie die Beziehung in ewiger Routine zerbricht, immer wieder wird das Kind zur Schule gebracht, dann verlässt die Frau Mann und Kind.
Nach der Pause blickt man in einen großen leeren Raum des Hauses, in einer Ecke haben sich Styropor-Schachteln, in denen Essen auf Rädern geliefert wird zu einer bizarren Installation gestapelt, ein alter Mann in schief zusammengeknöpfter Strickjacke wartet auf die nächste Mahlzeit. Nun schlägt die große Stunde von Johannes Martin Kränzle. Er ist der gealterte, verlassene Mann, der die sechs Monologe Frank Martins, die auf Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ zurückgehen als existentielle Selbstbefragung zeigt. Selten hat man diese Monologe subtiler, nuancierter und konzentrierter gehört. Kränzle vermeidet bellende Expression, er gestaltet vielmehr mit makelloser Diktion, moduliert grandios und erreicht mit kleinsten, aber präzis gesetzten schauspielerischen Mitteln maximale Intensität.
Dieses Endzeitszenario tot geweihter Einsamkeit ist kaum zu steigern, doch David Hermann setzt mit Schönbergs Monodram „Erwartung“ noch eins drauf, indem er die Einsamkeit ins Wahnhaft-Hysterische steigert. Nachtschwarz ist es nun auf der Bühne, wenn eine ältere Frau zu ihrem alten Haus irrt, in Erinnerungen schwelgend ihren Mann sucht, und schließlich seine Leiche findet. Wie Johannes Martin Kränzle ist auch Camilla Nylund auf dem Gipfel ihrer Möglichkeiten. Ihr leuchtender, voller, aber in ruhigem Strom fließender Sopran öffnet sich mühelos, schwingt sich gleißend in die Höhe, in schimmerndem, aber niemals scharfem Metall. Ganz in Schwarz und Mitternachtsblau gewandet, mit langem weißem Haar spielt auch Nylund hoch konzentriert und versammelt.
Zwei große Sängerschauspieler machen diesen verblüffend schlüssigen Abend zum Ereignis, Mannheims scheidender Generalmusikdirektor Alexander Soddy leitet das hörbar auf der Stuhlkante sitzende Frankfurter Opern- und Museumsorchester souverän und mit viel Sinn für impressionistische Farben und feinste Zwischentöne, grobschlächtige Effekte vermeidend. Ein großer Wurf.