Die Musik kommt nicht allein des Wegs bei der von Johan Simons kuratierten Ruhrtriiiennale. Sie erscheint, stärker noch als bei den ihm vorangegangenen Intendanten, flankiert von einer Fülle sozialer, rhetorischer und bildkünstlerischer Bemühungen. Aber sie dürfte fortdauern der bedeutsamste Faktor sein bei der neuen Nutzung der Industrie-Ruinen und -Brachen seit der Jahrhundertwende. Die neuerlich mit Fragezeichen versehenen Leitbegriffe der ersten französischen Revolution geben die Denk- und Blickrichtung vor: Freiheit? Gleichheit? Brüderlichkeit? Noch einmal werden die längst (und eigentlich von Anfang an) obsoleten Parolen „befragt“, „abgeklopft“ – umgespült und sogar in anachronistischer Weise für Christoph Willibald Glucks Wiener Hofoper „Alceste“ in Anspruch genommen.
Vollmundigkeit der großen Ratlosigkeit
Bei der Begrüßung zum groß und breit angelegten NRW-Festival betonte Johan Simons, wie sehr die drei beschworenen Werte von außen und im Inneren gefährdet seien. Der Intendant zählte die islamistisch motivierten Anschläge der letzten Monate auf. Von Paris bis Ansbach. Zugleich verwies er auf die in Europa ohnedies begrenzte und inzwischen noch gesunkene Bereitschaft, sich der Flüchtlings-, Zuwanderungs- und Integrationsproblematik sowie den sozialen Verwerfungen samt Folgen zu stellen. Noch einmal beschwor Simons in Denkformen, die sich in den Jahren des Kalten Kriegs herausbildeten, die besonderen „Möglichkeiten der Künstler“ zum Nachdenken über diese gesellschaftlichen Schlüsselfragen. Er ist sich sicher, dass die Kulturschaffenden zur Mobilisierung für das letztlich Gute mit ihren spezifischen Mitteln beitragen können, wollen und werden. Warum ausgerechnet die eigenbrötlerischen Künstler dazu befähigt sein sollen und nicht zum Beispiel die weithin kommunikativeren Fußballer oder andere tiefsinnige Kenner der Weltzusammenhänge, bleibt unerfindlich.
Auch ignoriert Simons, dass die verführerischen Ideale des Jahres 1789 nur für eine Minderheit gedacht waren – Frauen blieben ebenso ausgenommen wie Protestanten, Juden und Schauspieler. Er könnte es besser wissen. „Von den drei Leitvokabeln: fraternité, liberté und egalité war die erste eine leere Opernphrase“, bemerkte Egon Fridell in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ bereits 1928; „und die beiden anderen sind unvereinbare Gegensätze. Denn die Freiheit vernichtet die Gleichheit und die Gleichheit vernichtet die Freiheit“.
Carolin Emcke nahm die drei hehren Versprechungen genauer unter die Lupe. Sie hätten „ihre Wirkungsmacht verloren, weil sie nie für alle gegolten haben“ (die aus der Klassengesellschaft resultierenden Gründe wurden höflich verschwiegen). Die u.a. für die Süddeutsche Zeitung tätige Kolumnistin bekannte das Dilemma „einer erhöhten Qual der Echtzeit-Zeugenschaft“ bei Kriegshandlungen ein: Dass wir Fernsehzuschauer und Internet-Nutzer, die „optischen Komplizen der Täter“, die Illusion einer Teilhabe vermittelt bekommen, ohne einwirken zu können. Also bedrängt und tatenlos bleiben. Nach der probaten Methode wortgewaltiger Prediger umriss Emcke zunächst nochmals das düstere Panorama der Gegenwart, absolvierte einen Parcours durch die anschlagsgepeinigte Welt von Paris bis Atlanta (wo der Hass den Homosexuellen galt). Dann aber verabreichte sie den Trost der „Erziehung zu Respekt vorm Fremden“. Emcke gab eine kleine Lektion weiter, die ihr die geliebte Mutter vor Jahrzehnten anhand eines Flecks auf ihrer Hose erteilt hatte. Dass im Gegenzug ein gewisser Respekt seitens des in der „Festung Europa“ sich etablierenden „Fremden“ zu verlangen ist (und keineswegs primär bezüglich der Kleiderordnung), vergaß die Festrednerin im Zuge ihrer kess-koketten rhetorischen Pirouetten zu erwähnen. Eine Steilvorlage für die AfD, über deren Hass-Potential sie sich zuvor moralisch empörte? Nun, Dialektik ist nicht jederfraus Sache.
„House of the Talking Heads“, „Oracle” und Orakel
„literarisch – weiblich – engagiert“ lautet ein dick rot gedruckter Slogan, der dieser Tage von Düsseldorf aus in die Kulturwelt hinausgeschickt wird. Noch deutlicher als die Festreden in der Bochumer Turbinenhalle mutete das vor die Glasfront der Jahrhunderthalle verlegte Foyer-Programm an, als wolle es sozialdemokratisch-grünen Vorgaben der im Fall der Triennale kulturspendablen Landesregierung genügen und sich liebkindmachen. Das Atelier van Lieshout baute und bespielt ein „Kunstdorf“ unter dem Motto „The Good, the Bad and the Ugly“ – wohl vorzugsweise für Nutzer im Schüler- und Studierenden-Alter. Große Kunstköpfe aus Drähten und Schläuchen suchen nicht nur den die meiste Zeit im Jahr ziemlich stillen Industriedenkmalsort „neu sehen“ zu lehren, sondern beleben ihn auch interaktiv mit Spiellust und Partylaune. Aber Tücke des Objekts: Das Kunstgebilde, dem sich per SMS Nachrichten schicken lassen sollten, verweigerte erst einmal den Empfang. So kann es dem volkspädagogisch lieb Gemeinten ergehen: Dass es schlicht und einfach nicht ankommt. Doch auch aus einem stummen Orakel kann eine Prophezeiung herausgelesen werden.
Gut gestärkt durch ökologisch wahrscheinlich wertvolle Leckerbissen und holländische Würste, verabreicht vom niederländischen Tross des Intendanten, erreichte das erwatungsfrohe Musiktheater-Publikum nach drei Stunden die Zuschauer-Tribünen für die in die Länge und Breite gezogene Premiere von Glucks „Alceste“. Die italienische Erstfassung wurde am 26. Dezember 1767 erstmals am Wiener Burgtheater gegeben. Der Regisseur Simons reklamiert für das Werk, dass es erstmals eine bürgerliche Heldin zur Titelfigur erhoben habe. Doch in Ranieri de’ Calzabigis Libretto handelt es sich zweifelsfrei um die Königin des mythischen Pherä in Thessalien – für Monteverdis Poppea, die 125 Jahre zuvor die Opernbühne betrat, um sich auf den Cäsarenthron zu schlafen, ließe sich das ius primae weit eher reklamieren. In Wissenschaftlerkreisen gilt wohl inzwischen die Annahme als plausibel, die römisch-deutsche Habsburger-Königin „Maria Theresia (so geht aus der Dedikation des Librettisten hervor) habe nach dem Tod ihres Gatten Franz I. [Stephan von Lothringen] ein Alkestis vergleichbares Zeugnis des Muts und der Liebe abgelegt“. So ganz „bürgerlich“ oder gar – bezogen auf 1789 – „vorrevolutionär“ erscheinen Sujet und Entstehungsumstände der „Alceste“ jedenfalls nicht. Unstrittig dürfte sein, dass im Zentrum der Tragedia von de’ Calzibigi und Gluck eine „starke Frau“ steht, die bereit ist, an Stelle ihres Ehemanns in den Tod zu gehen.
Glück der Musik
Der Ruhrtriennale steht mit dem belgischen B’Rock Orchestra ein überwiegend junges und durchwegs sehr temperamentvoll musizierendes Instrumental-Ensemble zu Verfügung. Es begleitet die Idee der Selbstaufopferung, die Entschlossenheit und die Anfechtungen, die Gewissensnöte einer Mutter und die Seelengewissheit Alcestes sorgfältig und umsichtig. Die häufigen Tempo- und Taktwechsel vollziehen sich wie selbstverständlich und mit der wünschenswerten Abstufung der dynamischen Differenzierungen bis hin zu den Echo-Effekten im III. Akt. Georg Nigl profiliert sich mit modifikationsfähigem Bariton und herausragendem sängerschauspielerischem Einsatz als Olympier Apollo und als dessen Oberpriester, auch als Gott der Unterwelt und als Herold. Den todgeweihten und dann zu kräftigem Leben wiedererwachenden König Admeto singt Thomas Walker nicht nur würdevoll. Seine gewinnende Tenorstimmführung wird der Dynamik der wechselnden Gefühlslagen vollauf gerecht und entwickelt hohe Intensität. Birgitte Christensen bestreitet die Titelpartie mit gradliniger Innigkeit, schnörkellos und ohne die leiseste Virtuosen-Attitüde. Sie durchmisst die große Bandbreite und den Kontrastreichtum der Affekte in der von den Urhebern des Werks im Vorwort zur Druckausgabe von 1769 geforderten Weise (nicht zuletzt wegen diesem „Prefazione“ und der in ihm enthaltenen Reformankündigung gilt „Alceste“ als Schlüsselwerk der Operngeschichte). Kurz: Die norwegische Sopranistin stellt sich, wie der am Dirigentenpult ausbalancierende Alte-Musik-Spezialist René Jacobs und der Regisseur Simons, auf die sympathischste Weise in den Dienst der fast ohne dramatische Handlung komponierten dramatischen Musik.
Johan Simons kompensierte den Mangel an äußerer Handlung nicht dadurch, dass er auf der langgezogenen leicht spiegelnden Spielfläche vor dem Orchester (unangemessenen) Aktionismus inszeniert hätte. Wiewohl es sich angeboten hätte, die Fragen nach Opferbereitschaft und Selbstopfer heute auch szenisch zu „befragen“ (wäre dies unternommen worden, hätte es wohl sehr ungemütlich werden können). Der aus Perm verpflichtete Chor MusicAeterna, mit Andeutungen an die Kleiderordnung der 1760er-Jahre kostümiert, wird freilich immer wieder (und mitunter auch heftig) in Bewegung gesetzt. Eine große Zahl weißer Plastikstühle und -sessel, die international zur Grundausstattung von Strand- und Straßencafés gehören, bleiben – neben etlichen toten Krähen (auch sie Zitat) – die einzigen Requisiten. Ein Teil von ihnen poltert im rechten Moment lautstark aus höheren Regionen herab. Mehr als diese länder- und kulturenübergreifenden hässlichen Möbelstücke braucht es auch nicht, wenn das Augenmerk und die Aufmerksamkeit der Ohren so entschieden und respektvoll auf die musikalische Hauptsache gelenkt werden soll.
Eine wesentliche Komponente der Gluckschen Operngesamtkunstwerks wurde allerdings auf problematische Weise weggekürzt: Das Ballett. Von ihm sind lediglich Andeutungen bei den Bewegungsabläufen der MusicAeterna-SängerInnen übrig geblieben sowie am Ende ein bisschen Ringelpiez von Aspasio und Eumelio, den beiden Kindern des königlichen Paares, das von Apollo am Ende mit jenem langen Leben bedacht wird, von dem es im Märchen allenthalben heißt: „Und wenn sie nicht gestorben sind ...“. In der Jahrhunderthallen-Inszenierung wird diese tröstliche Verheißung nicht beeinträchtigt. Die Kapelle spielt zum langen Ausklang verschiedene Versionen des Schluss-Ballo. Die Fragen nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit heute sind gegen halb zwölf in der Nacht in weite Ferne gerückt.